NEITHARD BETHKE                          WERKVERZEICHNIS - NBWV
  
 


KLEINE AUSZEIT - ZUM WEIHNACHTSFEST

Ein Raum für Andacht, Geist und Seele


O Morgenstern

eine Andacht von Pfarrer Christoph Seidl, Regensburg

Die Dunkelheit draußen macht mir immer ein bisschen zu schaffen. Das Aufstehen ist schwieriger in der dunklen Jahreszeit; wenn ich aus dem Haus gehe, ist es finster, wenn ich heimkomme auch. Ich merke, dass mich das lähmt, es macht mich träge. Umso mehr freue ich mich über die vielen Lichter, die in diesen Wochen in den Straßen, Wohnungen und Gärten gegen die Dunkelheit anleuchten. Was mir auch hilft, ist ein Tag Sonnenschein zwischendurch, vielleicht sogar ein Ausflug auf einen Berg mit weiter Sicht. Mir ist, als würde ich die Sonne innerlich speichern – und in mir ein inneres Licht wachhalten.

So ein inneres Licht brauche ich öfters – nicht nur im Winter, sondern auch in Momenten, die mich ratlos machen – bei einem Problem oder in einer Krankheit; ein inneres Licht, das mich gegen die Dunkelheit ankämpfen lässt. Dieses innere Licht muss kein Scheinwerfer sein, es genügt sozusagen ein „Lichtblick“. Manche kleinen Lichter, die in der Dunkelheit helfen, würde man bei strahlendem Sonnenschein sogar nicht einmal bemerken. In einer großen Stadt gibt es nachts so viel Licht, dass man kaum Sterne entdecken kann. Erst am Land draußen, wo es nachts wirklich finster ist, sieht man Sternbilder, die Milchstraße und ganz winzige Sterne, manchmal auch Sternschnuppen. Hat möglicherweise die Dunkelheit auch eine besondere Bedeutung?

Sehr interessant finde ich in diesem Zusammenhang eine Pflanze, die in dieser Zeit vielfach zu sehen ist: den Weihnachtsstern. Er ist für mich mehr als eine Dekoration. In südlichen Ländern wachsen unsere „Weihnachtssterne“ wie große Büsche an der Straße. Aber da sucht man vergeblich nach roten Blütenblättern. Denn die entstehen nur, wenn die Pflanze viel Dunkelheit erlebt, viel Sonnenlicht lässt dagegen nur grüne Blätter wachsen. Im Herbst regen die längeren Nächte die Blütenbildung an. In unseren Regionen hilft man noch ein bisschen nach und stellt in der Entwicklungszeit schon am frühen Nachmittag einen Eimer darüber oder legt schwarze Folien über die Gewächse, dann werden die oberen Blätter rot. Man könnte die Dunkelheit in diesem Fall beinahe  als eine Art Entwicklungshilfe bezeichnen.  

In den Weihnachtserzählungen gibt es bekanntlich auch einen Stern, der in der Dunkelheit aufgeht und zum Wegweiser für eine neue Perspektive im Leben wird. Um ihn zu sehen, muss es dunkel sein, brauchen die Sterndeuter eine Sehnsucht, also zunächst einen Mangel. Daraus wird etwas ganz Großes, Wunderbares. Andere Bilder aus der Bibel unterstreichen das. Der Spross aus der toten Wurzel zum Beispiel (Jes 11,10), das Volk in der Finsternis, das ein helles Licht sieht (Jes 9,1) – und nicht zuletzt ein Kind, wo eigentlich keines zu erwarten ist.

Mir ist, als würde jede dieser alten Geschichten ein kleines Hoffnungslicht in meinem Leben anzünden, so dass es schrittweise heller wird – wie von Woche zu Woche am Adventskranz – damit ich mit meinen Sorgen und Nöten leben und umgehen lerne. Die Bibel ist davon überzeugt, dass Gott selbst für diese Erhellung im Leben sorgt. Philipp Nicolai (1556-1608) hat diese Überzeugung in dem bekannten Choral „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ zum Ausdruck gebracht.

Weihnachten selbst nimmt nicht alle Schwierigkeiten und Herausforderungen aus meinem Leben weg. Aber diese Tage helfen mir zu sehen, dass in dunklen Momenten wieder ein Lichtblick auftaucht, dass in der Dunkelheit etwas Schönes zu blühen beginnen kann.

Die Tage sind so dunkel

op. 46/1989

Kantate über ein altes geistliches Volkslied für Sopransolo, Solistenquartett (ad lib.), Chor, Orgel konzertierende Querflöte und Orchester (ad lib.)

Orchestervorspiel und Choral


Die Tage sind so dunkel, die Nächte lang und kalt, doch übet Sterngefunkel noch über uns Gewalt.

Und sehen wir es scheinen aus weiter weiter Fern, so denken wir, die Seinen, der Zukunft unsres Herrn.

gleichzeitig Solisten:

Dein König kommt in niedern Hüllen, ihn trägt der lastbarn Eslin Füllen; Empfang ihn froh, Jerusalem! Trag ihm entgegen Friedenspalmen, bestreut den Weg mit grünen Halmen, so ist´s den Herren angenehm.


Verlag Merseburger, Kassel

EM 972 |  ISMN 979-0-2007-3136-1




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KLEINE AUSZEIT - IM ADVENT

Richard Brautigan -

Der kleinste Schneesturm, der je registriert wurde

Der kleinste Schneesturm, der je registriert wurde, hat vor einer Stunde hier in meinem Hinterhof stattgefunden. Er bestand aus etwa zwei Flocken. Ich wartete darauf, dass noch mehr Schneeflocken fielen, aber das wars schon gewesen. Der ganze Sturm bestand bloß aus zwei Flocken.

Die Art, wie sie vom Himmel fielen, erinnerte mich an die Art, auf die Laurel und Hardy immer auf den Hintern knallten, und wenn ichs mir recht überlege, hatten sie Ähnlichkeit mit den beiden. Es war, als wären Laurel und Hardy in Schneeflocken verwandelt worden und träten jetzt im kleinsten Schneesturm der Welt auf. Es kam mir so vor, als ließen sich die beiden Flocken sehr lange Zeit damit, mit tortenverschmierten Gesichtern vom Himmel zu fallen - es war ein quälend lustiger Versuch, Würde zu bewahren in einer Welt, die sie dieser Würde berauben wollte, in einer Welt, die größere Schneestürme gewöhnt war, Stürme, die Schneedecken von einem halben Meter und mehr hinterließen - und die sich leicht über einen Zweiflockensturm mokieren konnte.

Als sie eine ulkige Landung auf dem Schnee bauten, der von einem Dutzend Stürmen übrig war, die wir diesen Winter schon gehabt haben, entstand eine Pause, in der ich zum Himmel hinaufschaute und darauf wartete, dass noch mehr Schneeflocken herunterkämen, und dann begriff ich, dass die beiden Flocken wie Laurel und Hardy schon ein ganzer Sturm für sich waren.

Ich ging nach draußen und suchte sie. Mir imponierte der Mut, mit dem sie in dieser Welt ganz sie selber waren. Als ich mich nach ihnen umschaute, überlegte ich mir, wie ich sie in die Tiefkühltruhe schaffen könnte, in der sie sich wohlfühlen konnten und in der ihnen die Aufmerksamkeit, die Bewunderung und die Anerkennung zuteil wurde, die sie sich so großartig verdient hatten.

Haben Sie schonmal versucht, in einer Landschaft, die seit Monaten mit Schnee bedeckt ist, zwei Schneeflocken zu finden?

Ich ging zu der Stelle, an der sie ungefähr gelandet sein mußten. Ich suchte zwei Schneeflocken in einer Welt, in der es Milliarden von ihnen gab. Und es konnte ja auch passieren, dass ich sie zertrat, was keine sehr angenehme Vorstellung war. Es dauerte nicht lange, bis ich aufgab, weil ich begriff, wie hoffnungslos mein Vorhaben war. Der kleinste Schneesturm der Welt war für immer verloren. Man konnte ihn nicht mehr von seiner Umgebung unterscheiden.

Ich stelle mir gerne vor, dass der außergewöhnliche Mut dieses Zweiflockenschneesturms irgendwie in einer Welt existiert, in der solche Dinge nicht immer gewürdigt werden. Ich ging wieder ins Haus zurück und ließ Laurel und Hardy draußen im Schnee, in dem sie untergegangen waren.

 


O du mein Trost und süßes Hoffen

op. 47/1989

Kantate zum Advent über ein altes geistliches Volkslied für Sopransolo, Solistenquartett (ad lib.), Chor, Orgel, konzertierende Querflöte und Orchester

Orchestervorspiel






KLEINE AUSZEIT IM HERBST

 

Uwe Steffen - Das Diktatheft


Ich kann mich noch recht gut daran erinnern, was es für mich als Schüler in der Grundschule für ein Hochgefühl war, wenn ich im Diktatheft eine neue Seite anfing. Natürlich hatte das seinen guten Grund. Die Seite vorher war nämlich manchmal vom Lehrer mit wenig erfreulichen roten Randverzierungen versehen worden. Da sahen mich die dick angekreuzten Fehler vorwurfsvoll an: alles, was ich falsch gemacht hatte, sei es aus Unkenntnis, sei es aus Flüchtigkeit. Dazu kamen – wir schrieben damals noch mit Federhalter und Tinte – die mancherlei Ungeschicklichkeiten: an einer Stelle hatte ich mit dem Ärmel die Tinte verwischt und manchmal – wer würde sich dessen nicht geschämt haben – war die Seite durch einen häßlichen Klecks verunziert. So war es nur verständlich, dass ich gern die Seite umschlug und eine neue begann, mit dem festen Vorsatz, die alten Fehler zu vermeiden, aufmerksamer bei der Sache zu sein und sorgfältiger zu schreiben, kurz: eine Seite hinzulegen, deren ich mich nicht zu schämen brauchte.

Manchmal denke ich: jeder Tag, der für uns anbricht, ist wie eine neue aufgeschlagene Seite in unserem Lebensbuch. Sicher ist der Tag vorher auch voller Fehler gewesen: dicker Fehler, Flüchtigkeitsfehler und Auslassungsfehler. Vielleicht war sogar ein häßlicher Klecks darin, dessen wir uns schämen. Aber daran ist so wenig zu ändern, wie in der Schule, wenn wir unser Diktatheft abgegeben haben: die Fehler stehen alle so da, wie wir sie gemacht haben, und wir können nichts mehr verbessern, hinzufügen oder durchstreichen. „Bös oder gut“, so heißt es in einem Abendlied vom vergangenen Tag, „es heißt, er ist vorbei.“

Es ist aber wichtig, wie wir die Seite des vergangenen Tages umblättern. Wir können es hastig tun, um bloß die Fehler und Kleckse von gestern nicht mehr sehen zu müssen, um schnell zu vergessen,  was wir verkehrt gemacht haben. So blättern wir wohl meistens die mißratenen Seiten unseres Lebensbuches um. Aber gerade dadurch verlieren wir die Möglichkeit, neu anzufangen, denn einen neuen Anfang können wir nur machen, wenn wir das vorherige bedacht und in Ordnung gebracht haben. Darum legte jeder Lehrer  mit Recht allergrößten Wert auf eine sorgfältige Berichtigung. Und wir sollten auch, ehe wir eine neue Seite unseres Lebensbuches beginnen, uns die Fehler von gestern noch einmal ins Bewußtsein rufen und anstatt sie zu verdrängen, sie gegenwärtig halten, damit wir sie nicht wieder machen.

So können wir recht an die Aufgaben des neuen Tages herangehen, der wie ein unbeschriebenes Blatt vor uns liegt. Die Aufgaben gleichen meist auch mehr einem Diktat als einem Aufsatz, denn wir können sie uns nicht selber wählen und frei gestalten, sondern sie werden uns zudiktiert und wir müssen damit fertig werden, wie sie uns gestellt sind. Da gibt es manchen harten Brocken, an dem wir zu knacken haben, und wir werden sicher nie ganz fehlerfrei sein. Aber wir dürfen gewiß sein, dass der, der unsere Fehler aufdeckt, uns um ihretwillen nicht verachtet, sondern uns dadurch helfen will, an unseren Fehlern zu lernen.


Uwe Steffen, aus „Alltagsgeschichten für Nachdenkliche“, 1975



Ziel der Zeit

op. 58, Nr. 2/1980

Geistliches Konzert für hohe Stimme und Orgel nach Texten von Jochen Klepper

Orgel: Neithard Bethke, Sopran: Christina Roterberg


(Auszug/ Beginn) Ich weiß nicht, hat es Sinn und lohnt es, dass ich lebe, nur weil mein Herz noch schlägt - Ich weiß nur, dass ich Rebe voll schweren Weines bin.

KLEINE AUSZEIT - IM SPÄTSOMMER

Achte auf deine Worte!

Eine Andacht von Domkapitular Gerhard Stanke, Fulda


Die Schriftstellerin Ulla Hahn zitiert in einem Zeitungsartikel einen Text aus dem Talmud, einer wichtigen Schrift aus dem Judentum. Der Text lautet:

„Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.“

(FAZ, 30. Juni 2020, 12)

Achte auf deine Gedanken - achte auf deine Worte. Eine Mahnung, die zu allen Zeiten ihre Berechtigung hatte und hat. Die Sprache ist ein Mittel der Kommunikation, das uns Menschen auszeichnet. Und die Kommunikation kann nur gelingen, wenn ich vertrauen kann, dass der andere die Worte so gebraucht wie man sie allgemein versteht. Wenn er ihnen nicht einen eigenwilligen Inhalt gibt.


An das Zitat aus dem Talmud fügt Ulla Hahn fügt noch ein Gespräch aus dem Buch „Alice im Wunderland“ an. Alice fragt den verrückten Hutmacher: „Kannst du denn die Worte so benutzen, wie du willst?“ Der antwortet: „Die Frage ist nicht, was ein Wort wirklich bedeutet. Die Frage ist, wer Herr ist und wer nicht.“

Die Herren bestimmen die Sprache und die Bedeutung der Worte. In allen Diktaturen beobachte ich, dass Sprachregelungen getroffen werden, die der Herrschaft dienen. Der russische Revolutionär Lenin sagt es deutlich: „Die wesentliche Voraussetzung für die Zerstörung der bestehenden Ordnungen ist die Zerstörung der Sprache.“  (Zitat danach: Ulla Hahn: FAZ, 30. Juni 2020, Seite 12)

Die Sprache ist dann nicht mehr ein Medium der Kommunikation, sondern ein Mittel der Indoktrination. Der Text aus dem Talmud, den Sie eingangs gehört haben, setzt nicht bei der Sprache an. Zuerst geht es in der jüdischen Schrift ums Denken. „Achte auf deine Gedanken.“ Auch Jesus hat sich zum Thema Sprache und Denken geäußert. Er sagt: „Was aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen. Das ist es, was den Menschen unrein macht.“ (Matthäus, 15, 18-20)

Jesus ruft deshalb zum Umdenken auf. Mit diesem Ruf tritt er in die Öffentlichkeit. Ein Leitsatz, an dem sich das Denken und dann auch das Reden und Handeln orientieren kann, ist die Goldene Regel. Ich habe sie als Kind in der negativen Form gelernt: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Jesus formuliert positiv: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen!“ (Matthäus 7,12)

Die Goldene Regel kann mir in Entscheidungssituationen helfen: Ich versetze mich in die Situation des anderen und überlege: Was würde ich an seiner Stelle erwarten? Dann wird mir vielleicht bewusst, was ich tun soll. Diejenigen, die andere in den Medien beschimpfen und bedrohen, möchten wahrscheinlich nicht so von ihren Mitmenschen behandelt werden. Im Denken fängt das Böse an. Es zeigt sich in Worten und Taten. Aber im Denken hat auch das Gute seinen Ursprung und führt dann zu guten Worten und guten Taten.




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Colloquium viatorum

op.113/2019

Musikalischer Trialog, für vier Vokalsolisten, drei Soloinstrumente, Streicher und konzertante Orgel, nach Texten des Görlitzers Jacob Böhme (1624)

Auszug, Beginn des zweiten Teils

Konzertaufnahme am 20.06.2021, Kreuzkirche Görlitz

Tenor/ Erzähler:

Also sie nun lief in solchem Wandel, da begegnete ihr der Herre Jesus Christ, der in diese Welt gekommen war, dem Teufel seine Werke zunichte zu machen und über gottlose Werke das Gericht zu halten, und sprach zur Seele, und eröffnete ihr den Weg zu seiner Gnade und rief ihr zu, sie solle umkehren und Buße tun. Da erschrak die Seele, und Furcht vor Gottes Zorn und Gericht ergriff sie, und kehrte sich mit Ernst zu Gott ein. Da sprach die Gnadenstimme Christi:

Chor:

Tue Buße und verlaß die Eitelkeit, so kommst du zu meiner Gnade!




 

KLEINE AUSZEIT - IM SOMMER

Sepp Herberger: Das nächste Spiel ist immer das schwerste
von Probst em. Dietrich Heyde, Jübeck


Vermutlich wissen nicht mehr viele, wer Lars Lunde ist. Rasch ist ein Stern am Fußballhimmel verblaßt. Aber Lars Lunde war vor Jahren einmal in aller Munde. Der gebürtige Däne, Profi im Dienste renommierter Clubs, war ein begnadeter Fußballer. Ich erinnere mich an ihn, weil ich einmal dies über ihn las: "Lars Lunde bestreitet gegenwärtig das schwerste Spiel seines Lebens." Diese Überschrift ließ mich aufhorchen und machte mich neugierig.

Mir fiel ein Wort des unvergessenen Bundestrainers Sepp Herberger ein, das lautet: "Das nächste Spiel ist immer das schwerste." Lars Lunde sollte dies an sich erfahren. Es war allerdings nicht das nächste Spiel auf dem Rasen, sondern im Leben, das für ihn am schwersten wurde. Und es sollte länger dauern als neunzig Minuten eines normalen Fußballspiels und nach anderen Regeln ablaufen.

Es war ein Tag im April 1988, der das Leben von Lars Lunde grundlegend veränderte. Am Steuer seines schnellen Wagens hatte er an einem Bahnübergang im schweizerischen Aarau ein Rotlicht übersehen und war mit dem Zug zusammengestoßen. Nach sechs Stunden auf der Intensivtation und zwölf Tagen im Koma begann das zweite Leben von Lars Lunde.

Das nächste Spiel ist immer das schwerste: Wie ein Kleinkind mußte er alles neu erlernen. Selbst die einfachsten Dinge bereiteten am Anfang große Schwierigkeiten. Lars Lunde sagte: "Ich habe einen unsichtbaren Gegner." Der war nicht mit guter Balltechnik zu besiegen. Wohl aber mit Geduld. Auf Geduld kommt es an und Ausdauer. Darauf, sich voll auf das nächste Spiel und auf den nächsten Schritt zu konzentrieren.

Wie nahe liegt es, sich zurückzuträumen, an die früheren Spiele zu denken: Ach, einfach aufwachen und alles ist wie früher. Aber das ist nicht möglich. Wir wissen es. Mehr noch, wir müssen es schmerzhaft spüren: wo man sich am vergangenen Spiel und Sieg orientiert und darauf ausruht, da ist die Seele in Gefahr, flügellahm zu werden, da hat sie das Spiel um die Zukunft schon verloren.

Das nächste Spiel ist immer das schwerste, bedeutet aber auch: Gehe Schritt für Schritt. Denke nicht schon an das dritte, vierte oder fünfte Spiel. Sorge dich nicht um morgen oder übermorgen. Wer zu weit nach vorn in die Zukunft denkt, dem kommen allzuleicht Wachsamkeit und Konzentration abhanden, die nötig sind, um dem Augenblick gewachsen zu sein. Jesus hat diese Erfahrung in der Bergpredigt einmal auf diese Worte gebracht: "Sorge dich nicht um den morgigen Tag. Der heutige hat seine eigene Plage." (Mt 6, 34)

Eine Perspektive über den Tag hinaus haben, das ja! Aber immer ganz da sein, wo wir sind. Im Heute leben. Und so gehen von Vertrauen zu Vertrauen auf Gott, der weiterführt. Lars Lunde jedenfalls konnte das schwerste Spiel seines Lebens als Sieger beenden.

 erschienen in: Der Ball ist rund - keine Philosophie des Fußballs, ISBN 978-3-89876-731-6

De vita
op. 18/1970
Geistliches Konzert über „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ für Querflöte und Orgel

Aufnahme Kreuzkirche Görlitz, 2018 Orgel: Olga Dribas, Querflöte: Katrin Paulitz






KLEINE AUSZEIT - ZUM PFINGSTFEST

Pfingsten - Mit dem Leben Antwort geben

eine Andacht von Weihbischof Matthias König, Erzbistum Paderborn

„Früher hatte ich mit dem Heiligen Geist nichts im Sinn, heute sagt er ‚Friedrich‘ zu mir.“ Einem unserer längst verstorbenen Weihbischöfe wird dieser Ausspruch in den Mund gelegt. Bischof Friedrich Maria Rintelen hat in seinem Leben viel erleben müssen. 

Er war in der Nazizeit Generalvikar des Erzbistums Paderborn, mußte die Repressalien der Nazis gegen die Kirche miterleben und sie, so gut es ging, dagegen verteidigen. Er war zu DDR-Zeiten bischöflicher Kommissar im Amt Magdeburg und hat den Kirchenkampf des Kommunismus erlebt. Als alter Mann war er ein beliebter Bischof im Ruhestand, der zu Firmungen kam und an die jungen Leute solche Weisheiten weitergeben konnte: „Früher hatte ich mit dem Heiligen Geist nichts im Sinn, heute sagt er ‚Friedrich‘ zu mir.“

Wir stehen unmittelbar vor dem Pfingstfest, dem Fest, an dem die Kirche Gott als Heiligen Geist feiert. Vor Jahren hat es bei Straßenpassanten eine Umfrage gegeben, was denn eigentlich Pfingsten bedeutet. Es kamen die interessantesten Ergebnisse zum Vorschein. So vermutete unter anderem jemand, Pfingsten sei das Fest der Hochzeit Jesu.

In Wirklichkeit ist es von seinem Ursprung her ein altes jüdisches Erntefest, mit dem Namen „Schawuot“ – Wochenfest, das sieben Wochen nach dem Pessach gefeiert wird. Am Fünfzigsten Tag nach diesem wichtigsten Fest des jüdischen Kalenders wurde für die erste Weizenernte des Jahres Dank gesagt. Im Griechischen, der Weltsprache der Antike, nannte man es „Pentecoste“, der Fünfzigste Tag, von dem sich unser deutsches Wort Pfingsten ableitet.

In der Apostelgeschichte des Neuen Testamentes wird berichtet, daß genau an diesem fünfzigsten Tag etwas außergewöhnliches geschah: Die Jünger Jesu, von der Kreuzigung ihres Meisters völlig verschreckt und verängstigt von den ersten Verfolgungen, hatten sich in einem Haus zurückgezogen. Fenster und Türen waren fest verschlossen. In diese Verschlossenheit bricht auf einmal etwas wie Sturm und Feuer ein, sprengt die Herzen der dort Verängstigten auf und verwandelt sie völlig. Auf einmal haben sie den Mut hinauszugehen zu den Menschen, vor denen sie sich bisher gefürchtet haben, und ihnen diese Botschaft nahezubringen: Unser Meister Jesus lebt und er möchte euch zum Leben führen. Man sagt, dies sei die Geburtsstunde der Kirche, die sich von da aus über den ganzen Erdkreis verbreitet. Eines macht es jedenfalls deutlich: der Geist Gottes, wie Christen ihn verstehen, kann Menschen tatsächlich packen und verwandeln. Er vermag ihnen eine Stärke zu verleihen, die sie sonst aus sich heraus nicht hätten.

Doch es gibt eine Schwierigkeit: es ist schwer, manchmal kaum zu schaffen, anderen diesen Gottesgeist zu erklären. Das gelingt im Grund nur über Bilder und Gleichnisse, oder wenn jemand selber Erfahrungen mit diesem Geist gemacht hat. Ich muß dabei oft an eine Begebenheit denken, die mir ein Bekannter einmal erzählt hat. Eine Familie hatte ihn in höchster Not um Beistand gebeten. Der Vater lag im Sterben, alle waren völlig hilflos. Die Not, die aus dem Hilfeschrei der Familie klang, hatte ihn zusagen lassen, im Wissen darum, so eine Situation noch nie erlebt zu haben. Mit Zittern und Zagen sei er dorthin gegangen, doch dann habe er sehr deutlich eine Kraft gespürt, die er nicht aus sich selbst heraus hatte. ‚Ich konnte den Sterbenden und seine Familie begleiten.‘, sagte mir der Bekannte. ‚Hinterher haben sie sich sehr bedankt. Dabei bin ich es, der zutiefst dankbar war für eine solche Erfahrung des Beistandes.‘

Ich glaube, viele könnten ähnliches berichten und auch ganz unspektakulär von Dingen erzählen, von denen sie gemerkt haben, daß sie ihnen ganz wunderbar zugewachsen, geschenkt worden sind. Für mich ist das eine Geist-Erfahrung. Es kann gut sein, daß der alte Bischof Friedrich Maria Rintelen ähnliches immer wieder neu erleben durfte. Vor allem aber war ihm immer bewußt: Dieser Geist kennt mich, er ruft mich bei meinem Namen. Darauf will ich mit meinem Leben Antwort geben.




KLEINE AUSZEIT - IM FRÜHSOMMER

Gott wohnt in einem Lichte

op. 9

Kantate; Ratzeburger Domchor, Birgit Vierling (Alt), K. Grambow (Querflöte), G. Budagjan (Violine), J. Schlesinger (Cello), M. Soberger (Orgel) - Auszüge


Orgelvorspiel und Eingangschoral: Gott wohnt in einem Lichte, dem keiner nahen kann, von seinem Angesichte trennt uns der Sünde Bann. Unsterblich und gewaltig ist unser Gott allein, will König tausendfaltig, Herr aller Herren sein.


Altsolo: Auch deines Hauptes Haare sind wohl von ihm gezählt. Er beibt der wunderbare, dem kein Geringstes fehlt. Den keine Meere fassen und keiner Berge Grat hat selbst sein Reich verlassen, ist dir als Mensch genaht.


Orgelzwischenspiel und Schlußchoral: Er macht die Völker bangen vor Welt- und Endgericht, und trägt nach Dir Verlangen, läßt auch den Ärmsten nicht. Aus seinem Glanz und Lichte tritt er in deine Nacht und alles wird zunichte, was Dir so bange macht.

Hermann Hesse - Bäume

Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Ich verehre sie, wenn sie in Völkern und Familien leben, in Wäldern und Hainen. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie einzeln stehen.

Sie sind wie Einsame. Nicht wie Einsiedler, die aus irgendeiner Schwäche sich davongestohlen haben, sondern wie große, vereinsamte Menschen wie Beethoven und Nietzsche. In ihren Wipfeln rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen im Unendlichen; allein sie verlieren sich nicht darin, sondern erstreben mit aller Kraft ihres Lebens nur das Eine: ihr eigenes, in ihnen wohnendes Gesetz zu erfüllen, ihre eigene Gestalt auszubauen, sich selbst darzustellen. Nichts ist heiliger, nicht vorbildlicher als ein schöner, starker Baum. Wenn ein Baum umgesägt worden ist und sein nackte Todeswunde der Sonne zeigt, dann kann man auf der lichten Scheibe seines Stumpfes und Grabmals seine ganze Geschichte lesen: in den Jahresringen und Verwachsungen steht aller Kampf, alles Leid, alle Krankheit, alles Glück und Gedeihen treu geschrieben, schmale Jahre und üppige Jahre, überstandene Angriffe, überdauerte Stürme.

Und jeder Bauernjunge weiß, daß das härteste und edelste Holz die engsten Ringe hat, daß hoch auf Bergen und in immerwährender Gefahr die unzerstörbarsten, kraftvollsten, vorbildlichsten Stämme wachsen.

Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.

Ein Baum spricht: In mir ist ein Kern, ein Funke, ein Gedanke verborgen, ich bin Leben vom ewigen Leben. Einmalig ist der Versuch und Wurf, den die ewige Mutter mit mir gewagt hat, einmalig ist meine Gestalt und das Geäder meiner Haut, einmalig das kleinste Blätterspiel meines Wipfels und die kleinste Narbe meiner Rinde. Mein Amt ist, im ausgeprägten Einmaligen das Ewige zu gestalten und zu zeigen.

Ein Baum spricht: Meine Kraft ist das Vertrauen. Ich weiß nichts von meinen Vätern, ich weiß nichts von den tausend Kindern, die in jedem Jahr aus mir entstehen. Ich lebe das Geheimnis meines Samens zu Ende, nichts anderes ist meine Sorge. Ich vertraue, daß Gott in mir ist. Ich vertraue, daß meine Aufgabe heilig ist. Aus diesem Vertrauen lebe ich.

Wenn wir traurig sind und das Leben nicht mehr gut ertragen können, dann kann ein Baum zu uns sprechen: Sei still! Sei still! Sieh mich an! Leben ist nicht leicht, Leben ist nicht schwer. Das sind Kindergedanken. Laß Gott in die reden, so schweigen sie. Du bangst, weil Dich Dein Weg von der Mutter und Heimat wegführt. Aber jeder Schritt und Tag führt Dich neu der Mutter entgegen. Heimat ist nicht da und dort. Heimat ist in dir drinnen, oder nirgends.

Wandersehnsucht reißt mir am Herzen, wenn ich Bäume höre, die abends im Wind rauschen. Hört man still und lange zu, so zeigt auch die Wandersehnsucht ihren Kern und Sinn. Sie ist nicht Fortlaufenwollen vor dem Leide, wie es schien. Sie ist Sehnsucht nach Heimat, nach Gedächtnis der Mutter, nach neuen Gleichnissen des Lebens. Sie führt nach Hause, jeder Schritt ist Geburt, jeder Schritt ist Tod, jedes Grab ist Mutter.

So rauscht der Baum im Abend, wenn wir Angst vor unseren Kindergedanken haben. Bäume haben lange Gedanken, langatmige und ruhige, wie sie ein längeres Leben haben als wir. Sie sind weiser als wir, solange wir nicht auf sie hören. Aber wenn wir gelernt haben, die Bäume anzuhören, dann gewinnt gerade die Kürze und Schnelligkeit und Kinderhast unserer Gedanken eine Freudigkeit ohnegleichen. Wer gelernt hat, Bäumen zuzuhören, begehrt nicht mehr ein Baum zu sein. Er begehrt nichts zu sein, als was er ist. Das ist Heimat. Das ist Glück.


 

Im Walde möcht ich leben

aus op. 69 "Der Jahrkreis" von Neithard Bethke, Klavier: Olga Dribas

Im Walde möcht' ich leben
Zur heißen Sommerzeit!
Der Wald, der kann uns geben
Viel Lust und Fröhlichkeit.

In seine kühlen Schatten
Winkt jeder Zweig und Ast;
Das Blümchen auf den Matten
Nickt mir: komm, lieber Gast!

Wie sich die Vögel schwingen
Im hellen Morgenglanz!
Und Hirsch' und Rehe springen                                        So lustig wie zum Tanz. 

Von jedem Zweig und Reise
Hör nur, wie's lieblich schallt!
Sie singen laut und leise:
Kommt, kommt in grünen Wald!

    

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874)

KLEINE AUSZEIT - ZUM OSTERFEST

Gott ist Liebe

vom ehem. Domprobst in Ratzeburg Uwe Steffen, eine NDR-Rundfunkandacht aus dem Jahr 1984

Wenn Sie etwas Neues entdeckt haben, dann können Sie es vermutlich nur sehr schwer für sich behalten. Sie müssen anderen davon erzählen, damit sie daran teilhaben. Genauso geht es mir. Ich habe beim Studium des Neuen Testaments etwas entdeckt, was mir schlagartig etwas Wichtiges klargemacht hat. Darum drängte es mich, Ihnen davon zu erzählen.

Wenn im Neuen Testament von Liebe die Rede ist, dann steht im griechischen Urtext nicht das allgemein gebräuchliche Wort "eros", sondern das nur selten gebrauchte, blasse, inhaltlich unbestimmte Wort "agape". Das ist im wahrsten Sinne des Wortes merk-würdig. Warum ist das so? - Die Antwort ist einfach: Wenn die Christen von Liebe sprachen, dann meinten sie etwas so anderes als das, was man gemeinhin unter Liebe verstand, dass sie ein ganz anderes Wort dafür gebrauchten, ein Wort, das noch nicht festgelegt war, das sie mit neuem Inhalt füllen konnten.

Welches ist der neue Inhalt? Nicht eine geistig-geistliche Liebe im Gegensatz zu einer sinnlich-körperlichen Liebe. Nein, viel radikaler: die Liebe Gottes im Gegensatz zur menschlichen Liebe. Die menschliche Liebe, das ist die Liebe, die aus der Natur des Menschen kommt, von ihrer grob - sinnlichsten bis zu ihrer edelsten und vergeistigsten Form. Die Liebe Gottes, das ist die Liebe, die ihren Ursprung, ihre Quelle in Gott hat, denn: "Gott ist Liebe". Weil sie ihrem Wesen nach schenkende, sich verströmende Liebe ist, darum strömt sie von ihm aus, auf Jesus Christus, seinen Sohn. In ihm nimmt sie leibhaftige Gestalt an in dieser Welt. Von Christus fließt sie über die, denen er seine Liebe zuwendet. Und die, die seine Liebe empfangen haben und von ihr erfüllt sind, geben sie weiter im  im Umgang mit den Menschen, denen sie begegnen. Jesus sagt das so: Wie mich der Vater geliebt hat, so liebe ich euch. Und wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr einander lieben.

Mir steht das Bild des römischen Brunnens vor Augen, den Conrad Ferdinand Meyer in einem seiner schönsten Gedichte beschrieben hat:

Auf steigt der Strahl und fallend gießt
er voll der Marmorschale Rund,
die, sich verschleiernd, überfließt
in einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
und strömt und ruht.

Die überströmende Liebe Gottes ist durch Christus "ausgegossen in unsere Herzen", und unser übervolles Herz kann nicht anders, als die Liebe, die es zu empfangen hat, weiterzugeben. Es ist nicht unsere Liebe, die es empfangen hat, weiterzugeben. Es ist nicht unsere Liebe, die wir aus uns selber schöpfen, sondern die Liebe Gottes, die durch uns hindurchströmt.

Nein, es ist nicht unsere Liebe. So wie ein Spiegel, der von einem Sonnenstrahl getroffen wird, diesen Sonnenstrahl widerspiegelt, ohne selber das Licht zu erzeugen, so sollen wir, die wir zu Spiegelbildern Gottes geschaffen sind, die Liebe, mit der Gott uns liebt, widerspiegeln in unserem Verhalten untereinander.

Wir können uns diese Liebe nicht selber geben. Aber wir können uns mit ganzer Seele der Macht der Liebe zuwenden, die sich in Jesus offenbart. Wir können uns ihr öffnen und uns von ihr erfüllen lassen, damit sie durch uns hindurchwirkt.

"Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm."


 



Jetzt ist der Himmel aufgetan

aus op. 69 "Der Jahrkreis" von Neithard Bethke, Klavier: Olga Dribas


Jetzt ist der Himmel aufgetan,
jetzt hat er wahres Licht!
Jetzt schauet Gott uns wieder an
mit gnädigem Gesicht.
Jetzt scheinet die Sonne
der ewigen Wonne!
Jetzt lachen die Felder,
jetzt jauchzen die Wälder,
jetzt ist man voller Fröhlichkeit.

Jetzt ist die Welt voll Herrlichkeit
und voller Ruhm und Preis.
Jetzt ist die wahre, goldne Zeit
wie einst im Paradeis.
Drum lasset uns singen
mit Jauchzen und Klingen,
frohlocken und freuen;
Gott in der Höh sei Lob und Ehr.

Jesus, du Heiland aller Welt,
dir dank ich Tag und Nacht,
daß du dich hast zu uns gesellt
und diesen Jubel bracht.
Du hast uns befreiet,
die Erde erneuet,
den Himmel gesenket,
dich selbst uns geschenket,
dir, Jesus, sei Ehre und Preis.

(Angelus Silesius)


KLEINE AUSZEIT - ZUR PASSIONSZEIT

Heilsames Erschrecken

eine Andacht von Probst em. Dietrich Heyde, Jübek


Vor einiger Zeit hörte ich jemanden sagen: „Es gibt so viel Elend und Leid in der Welt – warum denn zu allem auch noch ein so qualvoll leidender und sterbender Messias? Ich kann das Bild des Gekreuzigten in den Kirchen einfach nicht ertragen. Ich habe immer das Gefühl, ich müsste ihm helfen, ihn dort herunterholen und seinem Leiden ein Ende machen.“

Mich hat dieses Wort sehr nachdenklich gemacht. Haben wir uns nicht vielleicht schon viel zu sehr an den Anblick des Gekreuzigten gewöhnt? So sehr gewöhnt, dass wir kaum noch über Warum und Wozu nachdenken?

Wären wir doch unruhiger und wacher für die Leiden anderer, entschlossen, jedem Leid ein Ende zu machen. Aber wir sind es nicht. Wir erschrecken nicht mehr, wenn wir die Wunden, Schmerzen und Qualen des Gekreuzigten sehen. Es regt uns nicht mehr auf. Nötig wäre ein heilsames Erschrecken über uns selbst. Ein Erschrecken, das uns unruhig und wach sein lässt allem Leid und Elend gegenüber, das Menschen einander antun.

 Christinnen und Christen halten dieses Erschrecken wach – durch die intensive Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu. Besonders in der Karwoche, die mit dem Sonntag „Palmarum“ beginnt. An der Passion Jesu wird sichtbar, zu was der Mensch fähig ist: Er sündigt und bringt Leid über die Welt, weil er gleichgültig, gewalttätig, egoistisch sein kann. Weil ihm Macht über alles geht. Weil er Stärke demonstrieren muss.

Aber damit nicht genug. Wenn wir das Leiden und Sterben Christi bedenken, wird uns noch mehr sichtbar, wer Gott ist und wozu er fähig ist – nämlich zu einer leidenschaftlichen Liebe des Menschen. Gott liebt so leidenschaftlich, dass er für uns und mit uns leidet.

Ich erinnere mich an das Bild eines Kreuzes in Jerusalem. Darauf waren Menschen aus allen Völkern der Welt zu sehen. Das Kreuz wurde zum Ort der Begegnung, zum Kreuz-Weg des Friedens, wo Menschen zusammenkommen in ihrer Verschiedenheit, einander achten und respektieren und füreinander einstehen. Dieser Friede ist möglich. Er ist darum möglich, weil sich am Kreuz ein wunderbarer Tausch vollzogen hat und immer neu vollzieht:

 Alles Dunkle meines Lebens liegt auf Jesus. Und sein Friede kommt auf mich. All meine Unfertigkeit und Unvollkommenheit, meine ganze Schwachheit und Sünde hat er ans Kreuz genommen. Und er gibt mir dafür seine Kraft. Die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. Er schenkt mir Vergebung, Neuanfang und leidenschaftliche Liebe:

Die Liebe, die den Mund auftut für die Stummen und zur Zivilcourage ermutigt. Die Liebe, die der Gleichgültigkeit den Kampf angesagt hat. Eben die Liebe, die sich solidarisch an die Seite der Menschen stellt, die sich in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt, abgeschoben oder überflüssig fühlen.

Dietrich Heyde

 

Das Hohe Lied der Liebe

Chormotette, op. 14 b (Orchesterfassung) von Neithard Bethke

Akademischer Chor Zittau/Görlitz, A my taky (Liberec), Deutsches Bachorchester, Leitung: Neithard Bethke;  Auszug


Orchestervorspiel und Chor: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzte und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.



Schlußsatz: Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen!




KLEINE AUSZEIT IM MÄRZ

Katharina von Bora - Luthers "Mein Herr Käthe"

Gnade und Fried in Christo. Lieber Herr Käthe! Ich weiß dir nichts zu schreiben, weil M. Philipps sampt den Andern selbst heim kommen. Ich muß länger hie bleiben umb des frommen Fürsten willen. […] Gestern hatt ich einen bosen Trunk gefasset: da mußt ich singen. Trink ich nicht wohl, das ist mir leid, und thäts son recht gerne, und gedacht, wie gut Wein und Bier hab ich daheime, dazu eine schone Frauen oder (sollt ich sagen) Herren. Und du thätest wohl, daß du mir herüberschicktest den ganzen Keller voll meins Weins und ein Pfloschen deines Bieres so erst du kannst. Sunst komme ich für dem neuen Bier nicht wieder. Hiermit Gott befohlen sampt unsern Jungern und allem Gesinde. Amen. (Mittwochen nach Jacobi, 1534. [Anm.: 29.07.1534])

Dein Liebchen, Mart. Luther


Nur selten leitet ein derart großer - aber beabsichtigter - inhaltlicher Bruch wie hier in der an dieser Stelle einen Text ein…, also Achtung, liebe Leser, tief einatmen:

Lippendorf bei Leipzig. Heute ein Ort, der vollständig in einem Industriegebiet aufgesogen ist, gezeichnet von Kraftwerkstürmen inmitten einer verwundeten Tagebaulandschaft. Ein Ort, dessen einzige Straßennamen „Hauptstraße“ und „Am Kohlekraftwerk“ lauten. Zwischen dem ehemaligen Tagebau Peres und der Halde Lippendorf steht unweit der S71 das ehemalige Rittergut Lippendorf, die „Hauptstraße“ durchquert hier elegant das alte Gutsgelände. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Katharina von Bora, die spätere Frau Martin Luthers, in diesem Haus - oder unweit davon -  am 29. Januar 1499 geboren wurde.

Schon mit 5 Jahren wird die kleine Katharina in das Kloster Brehna gegeben, das ungefähr 70 km entfernt liegt - um 1500 bedeutet das eine Reisezeit von ungefähr einer Woche. Mit zehn Jahren wird sie in das Zisterzienserinnenkloster in Nimbschen bei Grimma aufgenommen – es liegt idyllisch im Muldental, nur knapp 2 Kilometer von der nahen Stadt Grimma entfernt. Dort legt sie im Alter von 16 Jahren ihr Gelübde ab und hat vermutlich schon früh von Martin Luther gehört, der mehrmals auch in der Klosterkirche und der Nikolaikirche in Grimma predigte. Seine Schrift „Die Freiheit des Christenmenschen“ erreicht dann auch Katharina von Bora und einige Gefährtinnen.

„Gleich einem steinigen Gebirge lag das Kloster zwischen den beiden sanften Hügelketten der Aue. … Die mächtigen Linden, die auf der Höhe des Jahres das schwere Gemäuer umwogten, standen in dem herben, späten Frühling noch unbelaubt und der wilde Wein umwucherte es noch nicht.“  *

Die Frauen entscheiden sich zur Flucht aus dem Kloster. Am Karsamstag, den 4. April 1523 verstecken sich die 9 Nonnen in großen Fässern auf einem Pferdefuhrwerk und gelangen mit der Hilfe des Torgauer Ratsherren Leonhard Koppe aus dem Kloster Nimbschen nach Wittenberg. Hier angekommen beginnt nun ein ganz neues Leben: Martin Luther selbst kümmert sich um die schnelle Verheiratung der Nonnen, die als „Nymphlein“ von katholischen Geistlichen verspottet werden. Katharina bleibt übrig – und schließlich gibt sich Martin Luther selbst einen Ruck und heiratet sie 1525. Wie das Leben sovieler Frauen der Geschichte ist auch ihres nur indirekt über die Biografie ihres Mannes überliefert. Aus seinen vielen vielen Briefen an sie kann das Bild einer tatkräftigen, entschlußfreudigen Frau rekonstruiert werden, die Luthers heruntergekommenes „Schwarzes Kloster“ in Wittenberg in ein geschäftiges Haus und eine florierende Gästeherberge verwandelt.

Eine starke Persönlichkeit war sie wohl, die Frau an Luthers Seite, die von ihm zunehmend respektiert wurde und der er vollends vertraute. Katharina war aber auch eine Mutter, die zwei ihrer sechs Kinder beerdigen mußte und in ständiger Angst um Martin Luthers Gesundheit lebte. Schon das Jahr 1527 wir eines der schwersten für sie: sie kümmert sich bereits um ihren einjährigen Sohn Johannes, der ihre volle Aufmerksamkeit fordert. Mit dem zweiten Kind ist sie schwanger, da erkrankt ihr Mann in Wittenberg so schwer, daß sie um sein Leben fürchten muß. Am 10. Dezember des gleichen Jahres wird dann die kleine Elisabeth geboren, die schon im Jahr darauf im Alter von acht Monaten verstirbt. Das ist der erste schwere Schicksalsschlag für das Ehepaar.

Bis 1534 werden vier weitere Kinder geboren: Magdalena, Martin, Paul und Margarethe. Katharina übernimmt selbst die Ausbildung der Mädchen, die Jungen erhalten eigene Lehrmeister und werden später auf eine Schule geschickt. Nur acht gemeinsame Jahre, die allein durch die vielen Reisen Luthers geschmälert werden, sind der Familie vergönnt. Stets präsent sind die wiederkehrenden körperlichen Leiden Martin Luthers. Katharina versucht, ihm mit ihrem profunden Kräuterwissen zu helfen, muß sich jedoch immer wieder anhören: „Da hilft mir dein Mist auch nicht mehr.“

Im September 1542 reißt der Tod der dreizehnjährigen Tochter Magdalena, die nach vier Tagen schwerer Krankheit in Wittenberg stirbt, die Eltern selbst aus dem Leben. „Mit der kleinen Elisabeth, die 1528 starb, war auch schon eigen Fleisch und Blut von ihrem Fleisch und Blut hinweggegangen, aber durch Magdalenas Tod fühlten sie sich selbst wie ertötet.“ ** Was in den Eltern vorgegangen sein mußte, als sie mit der Pflege der Tochter gefordert waren und dann doch dem Sterben des eigenen Kindes ausgeliefert waren - in Worten kann es sicher kaum ausgedrückt werden. Überliefert ist ein hilflos anmutender Ausspruch Martin Luthers, als das Kind in den Sarg gelegt wird: "Sieh, ach, das Bettchen ist zu klein."

Es folgen weitere schwere Schicksalsschläge: vier Jahre später stirbt Martin Luther während einer Reise und läßt sie als Witwe zurück. Zwar hatte er vorgesorgt und ein ungeheuerliches Testament aufgesetzt, das seine Frau als Verwalterin und Erbin vorsieht; ein bis dahin einmaliger Vorgang – doch Katharina konnte dieses Erbe nur gegen größte Widerstände antreten. Kurz darauf flieht sie mit ihren Kindern zunächst vor dem beginnenden Schmalkaldischen Krieg nach Magdeburg, 1552 schließlich zwingt die herannahende Pest sie zur Flucht nach Torgau. Katharina von Bora erleidet auf diesem Weg einen schweren Unfall mit dem Pferdefuhrwerk und wird noch wochenlang unter Schmerzen in der heutigen Torgauer Katharinenstraße 11, einem Quartier des ihr bekannten Wittenberger Medizinprofessors  Dr. Millich, gepflegt. Sie wird am 21. Dezember 1522 in der Stadtkirche St. Marien in Torgau beigesetzt.


A. Uhlemann

* J. Klepper: Die Flucht der Katharina von Bora

** Ernst Kroker: "Katharina von Bora"

Schönster Herr Jesu

op. 54/ 1993,

Kantate über ein altes geistliches Volkslied, Neithard Bethke

1. Satz: Orchestervorspiel

2. Satz: Chor und Solisten

Chor: Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Herren, Gottes und Marien Sohn, dich will ich lieben, dich will ich ehren, du meiner Seele Freud und Kron'. 

Schön sind die Wälder, schöner sind die Felder in der schönen Frühlingszeit; Jesus ist schöner, Jesus ist reiner, der unser traurig Herz erfreut. 

gleichzeitig Vokalensemble: „Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht, die Weisheit deiner Wege, die Liebe, die für alle wacht, anbetend überlege, so weiß ich von Bewundrung voll, nicht wie ich dich erheben soll, mein Gott, mein Herr und Vater.“




KLEINE AUSZEIT IM FEBRUAR

Laszlo Moholy-Nagy - Kunst lebt für die Gemeinschaft

"Wenn Ihr Beitrag wesentlich war, dann wird immer jemand dort wieder anfangen, wo Sie aufgehört haben, und das wird Ihr Anspruch auf Unsterblichkeit sein." (Walter Gropius)

Wir schreiben den Februar 1919: Zusammen mit Deutschland hat auch Österreich-Ungarn den Krieg verloren. Unter den Reparationen, die Italien als Wiedergutmachung einfordert, sind auch bedeutende Kunstwerke aus den nationalen Museen in Wien. Schon fahren die Lastautos vor, da wird in aller Eile eine Versammlung von Künstlern und Intellektuellen zusammengetrommelt. Der Name des Redners ist nicht erhalten, aber in einer Mitschrift ist überliefert was er dort gesagt hat – in einem kalten Februar, in dem die Menschen Holz im Wald zum Heizen gesammelt haben, in dem manche Menschen nurmehr Kleider aus Papier gehabt haben, in dem die meisten Menschen quälend hungerten und viele schwer erkrankt waren. In diesem Februar also ruft ein Redner der Versammlung beschwörend zu: „Ich sage allen, die mich hören wollen: Eine Stadt, die hungert, ist bedauernswert, ein Stadt, in der die Grippe Tausende hinwegrafft, ist ein Jammer. Doch ein Volk ohne Kunst ist eine Viehherde, und sein Leben und Sterben wird dann gleichgültig!“ (1)

Zwei Jahre zuvor, im Kriegsjahr 1917, wird der 22jährige k.u.k. Offizier Laszlo Moholy-Nagy an der russischen Front schwer verletzt. Die Zeit der Genesung wird für den angehenden Juristen eine Zeit der Neuorientierung. Er beginnt zu zeichnen und wägt sorgsam ab, ob es richtig sei "in den Zeiten der sozialen Umwälzung Maler zu werden?" (2) Schließlich trifft er seine Entscheidung. Rückblickend fast zeitgleich zu ebenjenem Aufruf des unbekannten Wiener Redners beschließt er, sein Leben der Kunst zu widmen. Im Jahr 1921 heiratet er die Künstlerin Lucia Moholy und wirkt freischaffend. Er wird zu einem der Pioniere der Moderne, in den 20er Jahren wird er Asisstent von Walter Gropius und später zu einem der bedeutendsten Lehrer am Bauhaus. In Berlin eröffnet er ein Atelier, jedoch erhält er 1934 in Deutschland ein Berufsverbot und emigriert schließlich über Amsterdam und England in die USA. Er gründet das "New Bauhaus" und später die School of Design Chicago. Laszlo Moholy - Nagy stirbt 1946.

Der Journalist Helmut Schneider faßte ein einem Beitrag über Moholy-Nagy dessen Auffassung vom Wirken der Kunst mit folgenden Worten zusammen: Kunst ist nur dann sinnvoll, wenn sie dem Menschen hilft, seine Situation zu erkennen. Eine Erkenntnis des Künstlers ist überliefert: "Die persönliche Befriedigung, Kunst zu schaffen, hat zum Glück der Massen nichts beigetragen. Nicht das Objekt, der Mensch ist das Ziel." 

Der Journalist führt in seinem Beitrag weiter aus: "Moholy-Nagy träumte einen utopischen Traum, und er hat es gewußt. Doch sein menschliches und künstlerisches Credo war nicht zu erschüttern: "Kunst lebt für die Gemeinschaft", sagte er wenige Jahre vor seinem Tod in einem Vortrag, "und sie transzendiert die Grenzen der Spezialisierung. Sie ist die intensivste und innerste Sprache der Sinne, und kein Individuum in der Gesellschaft kann auf sie verzichten." (3)

A. Uhlemann


(1) aus: Neithard Bethke in seinen „Gedanken eines Musikers über den Lebenssinn“

(2) Laszlo Moholy-Nagy, Tagebuch

(3) Helmut Schneider, Kein Leben ohne Kunst, ZEIT 43/1974


Wer sich der Einsamkeit ergibt

aus op. 94 Zehn Lieder für Mezzosopran



Akademischer Chor Zittau/Görlitz und Collegium Musicum Olsztyn, Leitung: Neithard Bethke; Konzert in Zittau 2017 (Auszug)


Wer sich der Einsamkeit ergibt, ach der ist bald allein;  Ein jeder lebt, ein jeder liebt und läßt ihn seiner Pein.

Wer sich dem Weltgewühl ergibt, der ist zwar nie allein.  Doch was er lebt und was er liebt, es wird wohl nimmer sein.

Nur wer der Muse hin sich gibt, der weilet gern allein. Er ahnt, daß sie ihn wieder liebt, von ihm geliebt will sein.

Sie kränzt den Becher und Altar, vergöttlicht Lust und Pein. Was sie ihm gibt, es ist so wahr, gewährt ein ewig Sein.

Es blühet hell in seiner Brust der Lebensflamme Schein. Im Himmlischen ist ihm bewußt das reine irdsche Sein.


(Bettina von Arnim)





KLEINE AUSZEIT IM JANUAR | EPIPHANIAS


Matthias Claudius - Der Mond ist aufgegangen

 eine Andacht von Bischof em. Karl Ludwig Kohlwage, Lübeck

Für Thomas Mann zählt das Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“ zu den schönsten deutschen Gedichten, wenn es nicht das schönste überhaupt ist. Jedenfalls ist es ein Volkslied von ungeheurer Popularität. Jeder kann es singen, niemand braucht sich zu genieren, wenn es angestimmt wird. Es ist nicht auf den kirchlichen Raum beschränkt, es ist auch nicht an den Abend gebunden. Man kann es bei Beerdigungen singen, wie ich es kürzlich erlebt habe, weil es ein Lied ist, das in eine die Todesgrenze überschreitende Ordnung und Geborgenheit einfügt: Gott, lass uns dein Heil schauen, nicht Eitelkeit uns freun.

Bischof Lilie hat es einmal bei einer für ihn unbequemen Situation zitiert: er war zu einem Gottesdienst eingeladen und stand auf einmal auf einer Kanzel, die für ihn, den relativ kleinen, gedrungenen Mann, ungünstige Größenmaße hatte. Er verschwand fast hinter dem hohen Kanzelpult, und war kaum zu sehen. Geistesgegenwärtig erklärte er der Gemeinde, hier denke er an Matthias Claudius und könne ihn leicht variieren: siehst du den Mann dort stehen, er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. Und schon hatte er die Situation gemeistert.

Das Abendlied hat etwas Hausväterliches, um ein altmodisches Wort zu gebrauchen: man kann sich eine ländliche Familie vorstellen, die nach getaner Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes Feierabend macht und zur Ruhe kommt und in die Landschaft schaut, über der der Mond aufgegangen ist, ein wunderbares, immer wieder ans Herz rührendes Bild.

Aber das Lied ist nicht nur Idylle. Die vom Mond erhellte Landschaft kann man als stille Kammer erleben, die des Tages Jammer vergessen lässt, aber in der Schluss-Strophe ist vom kalten Abendhauch die Rede, der mehr ist als eine Sache der Außentemperatur. Im kalten Abendhauch schwingt das Frösteln angesichts der Gefährdungen und Ungewissheiten der menschlichen Existenz mit – bis hin zum Frösteln angesichts des Todes, so Martin Geck in seiner wunderschönen Claudius-Biographie.

Die beiden ersten Strophen Naturbetrachtung, dann ergreift der Hausvater, von dem sich Bischof Lilie hat animieren lassen, in der 3. Strophe das Wort: zu dem gerade aufgegangenen Halbmond gehört eine unsichtbare zweite Hälfte. Daraus entwickelt sich eine kleine Predigt über die Hybris und Überheblichkeit des Menschen, der einerseits nur glaubt, was er sieht und deshalb für unvollkommen hält, was in Wahrheit rund und schön ist. Andererseits versteigt er sich zu Luftgespinsten und zweifelhaften Künsten.

Die letzten 3 Strophen sind Gebet: der Hausvater bittet für sich und seine Familie um einen schlichten, „uneitlen“, fröhlichen Glauben, um einen sanften Tod und Aufnahme in den Himmel. Den Himmel malt er nicht in reichen Farben, sondern lässt jeden das Seine darunter verstehen. Entscheidend ist die Perspektive der Ewigkeit. Wieder ganz in der Gegenwart fügt er den Wunsch an: Gott möge die Hausgemeinschaft ruhig schlafen lassen. Und dann meldet sich gleichsam von der Seite noch eine andere Stimme, wie mit kindlicher Direktheit: und unsern kranken Nachbarn auch.

Was für ein Lied! Das leuchtet unmittelbar ein: mit seiner Veröffentlichung 1779 beginnt eine Erfolgsgeschichte, die bis zum heutigen Tag anhält. Thomas Manns Urteil teilen viele.

Was für ein Lied! Trotzdem: es hat neben der Zustimmung immer auch und früh schon Kritik und Vorwürfe gegen dieses Lied gegeben. Es sei aufklärungs- und wissenschaftsfeindlich und gebe nicht viel auf die Vernunft des Menschen: wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel.

Diese Kritik erkennt einen Wesenszug des Dichters. Matthias Claudius ist kein Freund selbstgewisser Aufklärung und unerschütterlicher Wissenschaftsgläubigkeit gewesen. Im Blick auf die Gegenwart und jüngere Vergangenheit können wir fragen, ob er uns in dieser Skepsis nicht einiges zu sagen hat. Wenn er sich gegen „Luftgespinste“ und „viele Künste“ der Menschen wendet, müssen wir darin nicht eine große Hellsichtigkeit erkennen, wenn wir an die Folgen vermeintlicher Aufklärung und Wissenschaftlichkeit besonders in unserem Land denken?

Aufklärung ist eine große Sache, Kant hat eine kühne Vision in die Welt gesetzt vom „Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und seiner „Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen“, wobei allerdings oft die die Warnung vergessen wurde, dass der Verstand nie gefeit ist gegen den Unverstand, die Wissenschaft nicht gegen die Ideologie.

Der Dank für die von Kant initiierte Aufklärung geht immer einher mit dem Erschrecken, wie schnell und gründlich sie im Deutschland der braunen Herren in der Justiz, in der Medizin, in den Medien, im Kulturbetrieb, in der Pädagogik usw. über den Haufen gerannt worden ist. Irrationalismus und Verblendung, besonders im mörderischen Rassenwahn, übernahmen die Herrschaft, zuletzt setzten sie auch mit verheerenden Folgen die militärische Vernunft außer Kraft, die den Kampf verbietet, wenn er aussichtslos geworden ist. Wir erinnern uns an die Ereignisse vor 70 Jahren.

Manche singen das Lied der Aufklärung in höchsten Tönen, ich vermag das nicht. Zur europäischen Aufklärung mit Menschenrechten, Demokratie und Selbstbestimmung gehört leider ein dunkler Abgrund, der diese Errungenschaften komplett und fast ohne spürbaren Widerstand verschlang.

Das Abendlied ist ein wunderbares Plädoyer für Maß und Demut. Der Mensch ist „eitel armer Sünder“ nicht wegen einzelner Fehltritte, sondern  aufgrund des Dünkels: alles ist machbar, alles können wir schaffen. Unsere Vernunft ist unschlagbar. Und dieser Machbarkeitswahn geht nicht selten einher mit dem Gegenteil: mit totaler Gleichgültigkeit, für die nur noch die eigne Person und ihr Wohlergehen interessant ist.

Claudius erinnert uns daran, dass wir weder allmächtig noch ohnmächtig sind. Er ist ein Zeuge großer Gelassenheit. Es gibt Grund, diesem Leben und dem, der es uns gegeben hat, zu vertrauen. Von ihm kommen wir und zu ihm gehen wir. Und auf diesem Weg können wir Sinnvolles und Gutes tun und erleben.

„Der Mond ist aufgegangen“: im Zeichen des Mondes schlägt Claudius eine wundervolle „Brücke zwischen Gott und Mensch, zwischen Himmel und Erde, zwischen Zeit und Ewigkeit“ (Martin Geck). Es gibt ein Zuhause, es gibt ein Ziel. Und: es gibt eine Sprache, die diese Wirklichkeit aufschließt.

Amen

 

Du läßt dich wiedersehen

op. 69

"Du läßt dich wiedersehen" (aus op. 69 "Der Jahrkreis"); Neithard Bethke an seinem Bösendorfer Flügel


Du läßt dich wiedersehen, des Volkes alter Hort;                   Heil allen, die verstehen Dein Zeichen und dein Wort!            Du wandelst in den Lüften, im Säuseln vor uns her.               Du rollst in Felsenklüften die Donner, stark und schwer.


O Herr, wir sinken nieder vor deiner Herrlichkeit.               Noch einmal sende wieder die letzte Gnadenzeit,                   O hör' auf unser Flehen, und übe du Geduld,                     wenn wir dir eingestehen die Armut und die Schuld.


Wir haben all' verschwendet dein Erbteil und dein Gut.         Zum Eiteln uns gewendet vom ehrbar frommen Mut.             Was du so schön bereitet, was du so wohl bedacht,               hat alles uns verleitet zum Trotz auf eigne Macht.


Herr Gott, der allen Sündern in Gnaden gern vergibt.            Und an gefallnen Kindern im Strafen Wohlthat übt –            Wir Alle sinken nieder, und beten dich jetzt an,                    sind deines Leibes Glieder und streben himmelan!






 

 

      

 


Dietrich Bonhoeffer - Von guten Mächten wunderbar geborgen

Der Mensch lebt notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen, und ihm wird mit dieser Begegnung in einer je verschiedenen Form eine Verantwortung für diesen Menschen auferlegt.

 

Am 4. Februar 1906 wird in der Straße Birkenwäldchen 7 (ul. Bartla Kazimierza) in Breslau ein Zwillingspärchen geboren. Die Geschwister Paula und Dietrich Bonhoeffer leben die ersten Jahre ihrer Kindheit in Wroclaw, nahe des heutigen Park Szczytnicki und direkt an einem Nebenfluß der Oder. Es ist eine sehr musikalische Familie, auch Dietrich Bonhoeffer erlernte das Klavierspielen. Im Jahr 1912 übernimmt der Vater Karl Bonhoeffer die Leitung der Berliner Universitäts-Nervenklinik, die Familie zieht nach Berlin. Dietrich Bonhoeffer wächst heran und wird einer der bedeutendsten Theologen Deutschlands. Er wendet sich früh gegen die Ideologie der Nationalsozialisten und warnt schon im Januar 1933, zwei Tage nach der Machtergreifung Hitlers, in einer Radioansprache vor den Gefahren des Führerprinzips - aus einem "Führer" könne sehr leicht auch ein "Verführer" werden.

Dietrich Bonhoeffer unternimmt viele Auslandsreisen. Mit der Einführung des Arierparagraphen 1933 geraten viele Pfarrer mit jüdischen Wurzeln in Schwierigkeiten, Bonhoeffer gründet gemeinsam mit Martin Niemöller und anderen den "Pfarrernotbund", aus dem später die Bekennende Kirche in Deutschland hervorgeht. Er beginnt, sich weltweit zu vernetzen und kehrt 1935 nach Deutschland zurück, um den Pfarrernachwuchs der Bekennenden Kirche auszubilden. Das geschieht zunächst in Zingst und Finkenwalde, wo Predigerseminare stattfanden. 1937 werden diese Seminare durch die Gestapo geschlossen, Bonhoeffer lehrt weiter in illegalen "Sammelvikariaten".  Glaube, Theologie und Leben gehörten für Bonhoeffer untrennbar zusammen, er schrieb einmal, „dass eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist“.

Im Januar 1943 verlobte sich Dietrich Bonhoeffer mit Maria von Wedemeyer. Die beiden sollten sich nur noch bei Besuchen Marias im Gefängnis wiedersehen, denn schon kurz darauf, im April 1943 wird er verhaftet in kam in das Gefängnis in Berlin-Tegel. Durch seine enge verwandschaftliche Beziehung zu Hans von Dohnanyi wußte er schon früh von den Umsturzplänen gegen Adolf Hitler. Weil die Verschwörungspläne jedoch noch nicht vollständig aufgedeckt waren, entschied er sich, in den Verhören zu lügen. „Wahrheit“ bedeutet für Bonhoeffer nicht unbedingt, dass der Inhalt der Worte den Tatsachen entsprechen muss, sondern kann auch heißen, ein Geheimnis zu wahren. Man müsse die konkrete Situation beachten und für das eigene Reden Verantwortung übernehmen: „Jedes Wort soll seinen Ort haben und behalten.“

Bonhoeffer hielt während seiner Inhaftierung einen umfassenden Briefwechsel an seine Eltern, seinen Freund Eberhard Bethge und seine Verlobte Maria von Wedemeyer aufrecht. Während der gesamten Haftzeit in Berlin schreiben sie sich Briefe. Berühmt geworden ist das Gedicht „Von guten Mächten“, dass er Maria und seiner Familie zum Jahreswechsel 1944/45 schickt. Veröffentlicht wurden alle Briefe später in den Bänden „Widerstand und Ergebung“ (1951) und „Brautbriefe Zelle 92“ (1992).

Am 9. April 1945 wird Dietrich Bonhoeffer gemeinsam mit Wilhelm Canaris, Hans Oster, Ludwig Gehre und Karl Sack, ebenfalls Beteiligte am militärischen Widerstand, im Konzentrationslager Flossenbürg durch Erhängen getötet.

 

„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ (Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1942/1943 an seine Weggefährten)

A. Uhlemann

Neithard Bethke verfaßte 1962 die hier eingespielte Melodie. Sie liegt zunächst seinem Orgelwerk "Fantasie c-moll",  op. 5 zugrunde und wurde später nochmals in der Motette "Von guten Mächten" op. 7

Fantasie c-moll für Orgel, op.5/1964                                                                                                                                             
über eine eigene Choralmelodie zu „Von guten Mächten“ (Dietrich Bonhoeffer)


EM 1838  |  ISMN 979-0-2007-1637-5
Durchsichtige kammermusikalische Ritornelle trennen die einzelnen Choralvariationen, die von einer blitzenden Toccata bis hin zu meditativen Gebetsklängen die farben- und formenreiche Palette von interessanten Möglichkeiten einer Choralfantasie ausnutzen.


Von guten Mächten treu und still umgeben, op. 7/1965

Choralkantate nach Worten von Dietrich Bonhoeffer für Sopransolo, Chor, konzertierende Orgel und Instrumente (Flöte, Violine, Violoncello, weitere ad lib.)
EM 963 | ISMN 979-0-2007-3097-5   Dauer: 13 min

Die Kantate op. 7 bedarf der Minimalbesetzung eines (sehr guten) Organisten, eines vierstimmig besetzten gemischten Chores und einer Solosopranistin. Damit ist bereits eine vollgültige Aufführung möglich. Nach alter Kantoreipraxis können Chorstimmen farbig instrumentiert werden mit den Instrumenten, die in der Kantorei gerade zur Verfügung stehen. (zum Hörbeispiel unter "Kantaten und Motetten")




www.ekd.de, www.bonhoeffer-initiative.com

 





Von guten Mächten

op. 68

"Von guten Mächten" (aus op. 68 "Sammlung von zehn neuen Kirchenliedmelodien"); Neithard Bethke an seinem Konzert- Harmonium der Estoy Organ Company (Battleboro, Virginia/USA, Baujahr 1921)

Von guten Mächten treu und still umgeben,                      behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben                                   und mit euch gehen in ein neues Jahr.


Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.