NEITHARD BETHKE                          WERKVERZEICHNIS - NBWV
  
 

KLEINE AUSZEIT - IM SOMMER
Ein Raum für Andacht, Geist und Seele




ein Glas Wasser

DEMUT - Erdverbundenheit

von Gotthard Fuchs


Theologen gleichen Schatzsuchern oder Wünschelrutengängern. Also durchstreife ich das bisherige Christentum nach Goldadern oder Edelsteinen, und dabei stoße ich erstaunlicherweise immer wieder auf ein besonderes Schmuckstück, und das in verschiedensten Farben, Formen und Formationen, fremd und faszinierend zugleich:

Es ist das Wort „Demut“ und die gemeinte Haltung damit. Geerdet sein.

Schon in der Bibel, zuvor bei machen Philosophen und dann vor allem in der Zeit der Mönchs- und Kirchenväter gilt Demut als Inbegriff des wahren Lebens, als Basistugend für alles Gelingen, ja als goldener Schlüssel zum Glück. 

Humilitas heißt es plastisch im Lateinischen, also erdverbunden und mit Bodenhaftung. Humus und Humor hängen ja nicht nur sprachlich zusammen. Ob ein Mensch im Lot ist und also spirituell gut unterwegs, zeigt sich demnach an seiner Bodenhaftung, an seinem Steh- und Standvermögen, also auf dem Boden der Tatsachen. Handfest hat es die wunderbare Theresa von Avila auf den Punkt gebracht. Demut heißt für sie, in der eigenen Wahrheit leben. Also gerade nicht frommen Idealen nachjagen und sich mit großen Heiligen vergleichen, nein: überhaupt nicht vergleichen und vor allem nicht werten, was ja meistens abwerten heißt, andere, und sich selbst. 

Nein, sich und andere, vor allem sich, illusionslos ansehen und annehmen lernen, nichts schwarzsehen und nichts schönfärben, das braucht Mut und Ermutigung und – ein Lieblingswort von Theresa – entschlossene Entschlossenheit. Also, keine Flausen im Kopf, auch keine spirituellen, fromme Höhenflüge sind seltene Zugaben, aber nicht der Normalfall. Nein, „Dienstmut“ ist gemeint, besser übersetzt könnten wir „Tiefmut“ sagen. Also, auf den Teppich kommen, auf den Boden der Tatsachen. Gott umarmt uns mit der Wirklichkeit. 

Sein Heiliger Geist ist kein Vertröster, keine Vertrösterin. Er oder sie ermutigt vielmehr dazu, endlich Mensch zu werden. Mitmensch, Mitgeschöpf, wie Jesus von Nazareth, wie Theresa. Da werden unsere Begabungen und Möglichkeiten gewagt und wahrgenommen. Da kommen unsere Grenzen und Beschränkungen ans Licht. Da sorgen wir uns um Mutter Erde – Demut ist die ökologische Grundhaltung schlechthin. 

Vor kurzem wurde Michael Sandel, ein führender Sozialphilosoph der der USA, nach dem wichtigsten Gegenmittel gefragt zur Bewältigung gegenwärtiger Krisen. Seine Antwort wörtlich: „Demut. Sie kann mehrfach segensreich wirken. Sie hilft gegen die Hybris der Selbstüberschätzung von Individuen, sie bringt einen in Demokratien bei, den Andersdenkenden zuzuhören, sich in die Perspektive von anderen hineinzuversetzen und sie trägt im Gleichgewicht der Staaten dazu bei, dass der Westen sich nicht überhebt.“ 

Ja, ich finde, Sandel trifft ins Schwarze. In einer Zeit, in der wir auf Mutter Erde herumtrampeln bis zur Gefahr ihrer völligen Verwüstung, ist Erdverbundenheit eine sehr basale Tugend. Boden wiedergutmachen, das ist die einzige Perspektive, die weiterhilft, im Großen, und im Kleinen. Und der Zeitdiagnostiker Sandel setzt fort: „Demut ist es, die uns zu mehr Offenheit erziehen kann, die uns die Zufälle des Lebens erkennen läßt, die uns hilft in unserem Gemeinwesen wechselseitige Verpflichtungen wahrzunehmen, die Erfolgsethik der Gewinner zu überwinden und gegenüber anderen großzügig zu sein.“ 

Ja, Demut ist aktueller denn je, ohne sie keine Bewahrung der Schöpfung, keine Gerechtigkeit und kein Friede. Demut ist das Gegenteil von Nichtstun und fauler Ergebung. Es geht darum, auf den Teppich zu kommen und wortwörtlich – Boden wieder gut zu machen.


Gotthard Fuchs, Morgenandacht im DLF, 12.6.2024

Variationen c-moll

6. Variation und Zwischenspiel über eine eigene Melodie zu "Du bist als Stern uns aufgegangen", op. 6

an der Orgel: Andreas Hoffmann




KLEINE AUSZEIT - IM FRÜHSOMMER

Der Windflüchter
von Dietrich Heyde


Einsam und verloren stehen sie auf Inseln unter einem weiten Himmel. Sie haben von Stürmen geformte, bizarre Gestalt angenommen. Ihre Wipfel gleichen einem Schweif, der verrät, woher die Winde kommen, die Tag und Nacht in sie hineinfahren. "Windflüchter" nennen die Insulaner die Bäume, die jedem Wetter trotzen und sich gegen die Übermacht von Himmel und Meer behaupten müssen.  

Ein Windflüchter auf der Insel Hiddensee, nah bei Kloster, hat sich mir ins Gedächtnis geschrieben. Alt und knorrig steht er inmitten sanft ansteigender Hügel unweit der Steilküste. Seine Wurzeln sind vom Regen unterspült und heben sich handbreit vom sandigen Boden ab. Kahl ist sein Stamm bis hinauf zur Krone, die der Wind von See ins Land gedreht hat. Nah bei ihm wirft ein Leuchtturm in gleichen Abständen sein Licht übers Meer.

Diesen Baum, eine Kiefer auf dem Dornbusch, habe ich immer wieder aufgesucht um mich an seinem Bild satt zu sehen und soviel wie möglich von seinem Wesen aufzunehmen. An einem Spätsommerabend - ich saß im Schatten dieser Kiefer und überließ mich meinen Träumen, während vom Meer her ein silberner Schleier aufstieg, der sich rot färbte, als der Tag hinter dem Horizont verschwand. Da war mir, als würde der Windflüchter - meine Träume erratend - mir zuraunen:

"Du würdest am liebsten auf der Insel bleiben? Nun gut, aber was sollen die Träume vom ewigen Glück und ungetrübten Seelenfrieden, die du träumst? Glaubst du wirklich, dir wäre ein Leben ohne Stürme und Winde heilsam?

Sieh mich an und erkenne, was mich geformt, mir Wesen und Gestalt gegeben hat! Auch der menschliche Wille braucht Widerstände, um nicht zu erlahmen. Wem kein Wind mehr ins Gesicht bläst, wer keine Hindernisse zu überwinden und nichts schweres im Leben zu bewältigen hat, - schwinden würde ihm alle innere Dynamik, verloren ginge ihm die Spannkraft seiner Seele."

Der Mensch gleicht einem "Windflüchter", dachte ich, als ich mit Einbruch der Dunkelheit den Dornbusch wieder verließ. Wolkendunkel, Wind und Stürme - sie sind, was wir "Leben" nennen, was dein Wesen formt und dir unverwechselbare Gestalt gibt. Müssen wir deshalb verzagt sein? Oder kleinmütig in die Zukunft schauen?  Natürlich wissen wir nicht, was der Tag uns bringt und wie uns das Leben mitspielen wird. Dies aber kannst du wissen, dass auch bei uns "Windflüchtern" einer ist, der dir ganz nah und einem Leuchtturm gleich sein Licht übers Wasser schickt bei Tag und bei Nacht, damit du nicht verloren gehst im Meer der Zeit, sondern deinen Weg findest, Kurs hältst und ans Ziel kommst.



Da geht der Sturm, ein Umgestalter

aus dem Liederzyklus "Halligpsalmen", op. 96

Ak. Chor Zittau/Görlitz, Prager Kammerchor, Akkordeon: Ruslan Kratschkowski


Da geht der Sturm, ein Umgestalter, geht durch den Wald und durch die Zeit. Und alles ist wie ohne Alter: die Landschaft, wie ein Vers im Psalter, ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.  (Rainer Maria Rilke)

KLEINE AUSZEIT - IM FRÜHLING

rote Rose im Rauhreif

Tropfen auf den heißen Stein

von Pfarrer Eberhard Hadem, Roth (aus: "Gedanken zur Woche" im Deutschlandfunk)



Die Solidarität mit dem Leid anderer Menschen ist eine wichtige Fähigkeit. Sie vermittelt denen, die unterdrückt, verachtet und geschunden werden, dass da jemand ist, der sie aufmerksam wahrnimmt. Die Botschaft ist klar: Ich sehe dich. Ich sehe dein Leid. Es ist mir nicht gleichgültig. Ich ignoriere nicht, was dir passiert. Ich nehme Anteil an dem, was dir geschehen ist.

Ausgestattet mit dieser zutiefst menschlichen Möglichkeit des Mitleidens kann ich mit jeder ukrainischen Mutter um ihren im Krieg getöteten Sohn trauern. Und auch mit jeder russischen Mutter um ihren Sohn. Ich kann mit jedem israelischen Vater um seine vergewaltigte und geschändete Tochter trauern. Und mit jedem palästinensischen Vater leiden, dessen Tochter durch Bomben getötet wurde.

Entsetzlich viele Menschen, Ereignisse, Orte und Grausamkeiten andernorts ließen sich anfügen. Und sie zeigen, wie hilflos ich bin. Sie führen mir vor Augen, wie wenig Macht ich habe. Ich kann nichts tun – außer Mitfühlen. Dabei passiert es leicht, dass ich meine, genau zwischen Opfer und Täter unterscheiden zu können und auch unterscheiden zu müssen. Die Gefahr ist groß, dass ich mich dadurch abschotte gegen das Leid der einen und nur noch das Leid der anderen sehe. Auf der Abschlussveranstaltung der Berlinale am vergangenen Samstag sprach ein USamerikanischer Filmemacher vom ‚Genozid‘ an Palästinensern. Viele im Saal haben applaudiert. Aber zur Schändung und Ermordung von Israelis am 7. Oktober hat er nichts gesagt. Und kein einziges solidarisches Wort galt den 130 Geiseln, die aktuell noch immer in den Händen der Hamas sind.

Oft wird das Leid der einen gegen das Leid der anderen aufgerechnet. Aber keine Zahl der Toten macht den Schmerz der einen kleiner oder größer als den der anderen. Ich kenne die Versuchung, mich moralisch zu positionieren: Hier sind die Guten, da sind die Bösen. Meine Vermutung ist: Ich finde gute moralische Argumente für eine Seite, weil ich dann meine Ohnmacht besser aushalten kann. Oder vielleicht sollte ich eher sagen: besser verdrängen kann. Moralische Urteile über andere sind einfach. Sie kosten nichts, am allerwenigsten mich selbst. Ich kann so tun, als könnte ich von oben herab einen Konflikt bei anderen anschauen, denn ich bin ja kein Betroffener. Mir geht es nicht darum, alle Beteiligten eines Konflikts oder Krieges vermeintlich objektiv gleich zu beurteilen. Das will ich nicht, und das kann ich auch gar nicht. Die Frage ist doch: In einem Konflikt, der nicht der meine ist – welche Haltung kann ich einnehmen, wenn ich nicht bei dem Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung stehenbleiben will?

Ich meine, ich habe die Möglichkeit zu Mitgefühl und Solidarität. Das versucht der christliche Weltgebetstag, der heute stattfindet. Jedes Jahr am ersten Freitag im März beten weltweit Christen eine gemeinsame Liturgie. Jedes Jahr nimmt der Weltgebetstag ein anderes Land, eine andere Nationalität in den Blick. In diesem Jahr kommen die Texte und Gebete aus Palästina. Frauen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland erzählen von ihrem Leben, von ihrer Unterdrückung, von ihrer Hoffnung. Die Texte für den Weltgebetstag waren letztes Jahr schon fertig. Dann kam der 7. Oktober mit dem Überfall der Hamas auf Israel. Neben das Leid der Palästinenser trat das Leid der Israelis. Wie soll man von dem einen erzählen, ohne das andere abzublenden? „Wie kann man denn für beide beten?“, fragt mich jemand, „das geht doch gar nicht.“ 

Doch, es ist möglich, Mitleiden und Trauer nicht zu teilen; auch nicht Anteilnahme und Solidarität. Sondern Gott zu klagen, weil beider Leid zum Himmel schreit. Dann darf mich das Schicksal anderer zu einem Betroffenen machen, zu einem Mitmenschen, der nicht wegsieht oder sich abschottet. Am Ende der Gottesdienste zum heutigen Weltgebetstag wird in der ganzen Welt Geld gesammelt für Menschenrechts- und Bildungsprojekte, in denen palästinensische und israelische Frauen zusammenarbeiten. Das mag nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Aber es ist ein hoffnungsvolles Zeichen.


Es gilt das gesprochene Wort.

„Gedanken zur Woche“ von Eberhard Hadem im Deutschlandfunk am 1. März 2023

O Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens

aus op. 11/ 1967, Ratzeburger Domchor, Deutsches Bachorchester, Live-Mitschnitt 2004


1. Satz (Beginn/Auszug): O Herr, mach mich zum Werkzeug deines Friedens, dass ich Liebe übe, wo man sich haßt.

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