NEITHARD BETHKE                          WERKVERZEICHNIS - NBWV
  
 


Emotionale Seelen

zur Uraufführung von Neithard Bethkes „Colloquium viatorum“, op. 113

- von Wolfram Quellmalz -

aus: Musik & Kirche 5/2021, www.musikundkirche.de

Die Person Jacob Böhmes lässt sich noch heute schwer in übliche oder gewohnte historische Lebensbilder pressen, in Erinnerung blieb der gelernte Schuhmacher vor allem als Philosoph und Mystiker. Die Internationale Jacob-Böhme-Gesellschaft ist bestrebt, Werk und Schriften immer wieder in gesellschaftliche und kulturelle Mittelpunkte zu rücken. Im Juni und Juli fanden dazu eine Reihe von Veranstaltungen des Festivals dreyfach leben statt, die Ausstellung „Jakob Böhme und Schlesien“ ist noch bis in den September in der Görlitzer Frauenkirche zu sehen.

Einst war der Hauptpastor der Peter- und Paulskirche Görlitz gegen Böhme wegen dessen Gedankengut und Schriften vorgegangen, hatte gar eine (vorübergehende) Arretierung und ein Schreibverbot erwirkt. Am 13. Juni wurde in der Kirche nun ein Werk des in Görlitz lebenden Komponisten Neithard Bethke nach einem Text Jacob Böhmes uraufgeführt: „Colloquium viatorum“. Darin geht es um nichts weniger als das Seelenheil, um das zwischen hungriger Seele, erleuchteter Seele und dem Teufel gestritten wird. Ein Erzähler ordnet den Verlauf der drei Stimmen, fasst aber auch Teile des Geschehens in längeren Passagen zusammen, während der Chor mit kommentierenden Worten für musikalische Unterstreichungen sorgt.

Der Handlungsraum ist dramaturgisch ausgefeilt, immerhin will der Teufel die hungrige Seele verführen, ihren Glauben erschüttern und verspricht eine falsche Seligkeit. Doch die hungrige Seele erkennt im Gespräch mit der erleuchteten Seele die Gefahr, worüber sie zutiefst erschrickt.

Es geht weniger um Tatsachen oder Taten, denn um Glauben und emotionale Zustände. Neithard Bethke malt diese expressiv aus, so dass seine Musik die Worte nicht nur unterstreicht, nicht nur Stimmungen widergibt, sondern geradezu Teil der Erzählhandlung wird. Er erreicht dies einerseits mit klassischen Affekten, wie einem „züngelnden“ Orgelton in der Passage des Teufels, andererseits in der Form, etwa wenn Choräle nach und nach deutlicher, offensichtlicher werden.

Das kleine Orchester ist mit vielen Instrumenten besetzt, die sich durchaus durchdringend oder laut in Szene setzen lassen. Neben der Orgel und vielen Bläsern (u. a. Saxophon) sorgt eine große Anzahl von Schlagwerken für zarte (Glöckchen) und kräftige Ausmalung. Das stellt die Ausführenden vor manche Aufgaben, denn die Orgel sollte in der Stimmung nicht nur zum Orchester passen (der Einsatz einer kleinen Truhenorgel wäre wohl nicht befriedigend), es gilt auch, sich mit der Akustik des Raumes zu befassen, um instrumentale Leuchtkraft und Hörbarkeit der Stimmen gleichermaßen zu gewährleisten.

In der von uns erlebten zweiten Aufführung am 20. Juni in der Friedenskirche Świdnica waren die Voraussetzungen außerordentlich gut, denn der prachtvolle Innenraum kommt dem Hören zugute. KMD Reinhard Seeliger führte sorgsam durch das Werk, sodass die Solisten (Jana Büchner – Sopran / erleuchtete Seele, Susanne Kupfer – Alt / hungrige Seele, Christian Bild – Tenor / Erzähler und KS Matthias Henneberg – Bass / Teufel) gut verständlich waren. Vor allem berührte die emotionale Gestaltung gerade der beiden Seelen, während Matthias Henneberg die Verführungskraft des Teufels nachdrücklich in Szene setzte.

Der Görlitzer Kammerchor hatte den Abend mit Johann Knöfels „Cantus Choralis“ a cappella eingeleitet, dabei ein klares Klangbild abgegeben und dieses auch „Colloquium viatorum“ zugefügt. Das Orchester und Denny Wilke an der Orgel rundeten den seelenvollen, leidenschaftlichen Eindruck ab.




 

Wanderer zwischen den Welten

Der Kirchenmusikdirektor und Zittauer Komponist, Prof. Neithard Bethke, hat eine sowohl meditative wie lebendige Komposition zu Jacob Böhmes
Dialog "Colloquium Viatorum" (deutsche Titelvarianten: "Gespräch einer erleuchteten und unerleuchteten Seele", bzw.: "Sende Brieff an eine hungrige und durstige Seele") vorgelegt. Die Bezeichnung lautet:

op. 113/2018-2019 "Colloquium viatorum" - Geistlicher Disput zwischen einer erlösten Seele, einer noch unerlösten Seele  und dem Teufel ; nach einem Text von Jacob Böhme (Görlitz) -  für 3 Vokalsolisten, 3 Soloinstrumente, Streicher und Orgel - Vollständiger Sibelius-Privatdruck (2018)

Konzert-Bericht: Kampf und Erlösung

Konzert und Uraufführung am 13. Juni in der Peterskirche/Görlitz im Rahmen des Festivals: „dreyfach leben“ der Internationalen Jacob-Böhme-Gesellschaft

Der Komponist Neithard Bethke nahm sich Texte aus Böhmes „Colloquium Viatorum - Gespräch einer erleuchteten und einer unerleuchteten Seele" und schrieb dazu ein großformatiges Werk, das die Aktualität Böhmes bestätigt. Die hungrige Seele begegnet dem Teufel, der dem Irdischen alle Qualitäten bescheinigt, die das Himmlische vermissen lässt. Eine erleuchtete Seele stellt sich dagegen und unterweist die der Verführung zugänglichen Figur, sich nicht überreden zu lassen, auch wie sie sich vom Bild des Teufels, das sie bezaubert, befreien kann. Statt eines glücklichen Endes, bei dem Gott die Erlösung verfügt, bleibt der Hunger ungestillt, aber ein Weg, kein leichter, aus dem Elend wird gewiesen: „Ich muss durch Hitze und Kälte, bevor ich Gottes Früchte trage, durch Kampf und Mühsal werde ich bewährt, auch geläutert werden!“ In der Nachfolge Jesu Christi wird sie das Paradies in sich finden. Typisch Böhme, ist ohne aktive Beteiligung der Seele keine Nähe zu Gott zu erreichen.

Bethke verteilt den Text auf vier Solisten und Chor. Zwei Vibraphone, ein Saxophon, Orgel, Streicher und ein umfangreiches Schlagwerk sorgen für einen wuchtigen Klang, der die Dramatik des Stoffs übersetzt. Bethke kennt die Musik des 20. Jhdts. sehr gut, findet aus der Komplexität dieser Geschichte heraus und artikuliert seit vielen Jahren seine eigene Tonsprache. Vielfalt, Freude an ironischen Harmonien und ein sicheres Gespür für die Proportionen, bringen auch dieses Werk zu der ihm eigenen Originalität. Warum nach Zitaten suchen? Referenzen sind im Verlauf der Uraufführung Schall und Rauch, denn die Beteiligten übertragen die Anziehungskraft in ein konzentriertes Musizieren sui generis.

Der Görlitzer Kirchenmusikdirektor Reinhard Seeliger hat die Einstudierung erarbeitet und ordnet die Stimmen mit angemessenen Impulsen und sicherem Geschick. Da wackelt nichts. Die Dramaturgie der Komposition wird nachvollziehbar. Darum geht es ja bei einer Uraufführung.

Eröffnet wurde das Konzert mit einem Cantus Choralis a capella von Johann Knöfel, einem Komponisten des 16. Jhdts. und Zeitgenossen Böhmes. Eine kluge Wahl. Denn sie machte klar, in welch diszipliniertem, geistigen Kontext der ehemalige Schuster lebte; wie er sich frei schrieb und die Grenzen des Glaubens und der Erkenntnis verschob. Der Görlitzer Kammerchor hatte keine Mühe, das vielstimmige Werk vorzutragen.

Die Peterskirche hat ihre akustische Tücken. Wer hinten saß, war ein wenig verloren und hatte die Mühe, dem Wechsel zwischen Laut und Leise mit seinen Unterschieden genau zu folgen. Die Solisten agierten am Limit, stemmten aber ihre Texte mit einer genauen Einschätzung. Ein kleine Mikrofonunterstützung wäre sinnvoll gewesen. Purismus ist bei solchen Hallinversionen am falschen Platz.

Das Werk wurde aufgezeichnet und wird bald verfügbar sein. Dann wird sich Bethkes Böhme-Hommage genauer wahrnehmen lassen. Noch besser wäre bald eine zweite Aufführung in einem Raum, der vielleicht auch eine kleine Szenografie ermöglicht. Wenn sich die Sänger im Dialog gegenüberstehen, erhalten die Texte eine psychologische Qualität, die das Ringen Böhmes um Wahrheit und Erlösung mit zusätzlicher Kraft aufladen.

Reiner Schweinfurth



Wohin willst du, halbblinde Seele?

Der Komponist Neithard Bethke vertonte Jacob Böhmes „Colloquium viatorum“ – ein sehr anspruchsvolles Unterfangen, denn der Ursprungstext entführt die Leser in einen tiefgründigen Disput zwischen einer unerleuchteten und einer erleuchteten Seele und dem Teufel. Die klaren, jahrhundertealten Worte des Mystikers erfahren durch den Komponisten eine aktuelle, belebende Gewandung.

erschienen in SILESIA NOVA 3/2019; www.neisseverlag.de

von Anja Uhlemann

Vielleicht war es ein kalter Wintertag im Jahre 1624, als Jacob Böhme an seinem Arbeitstisch mit Gänsekiel auf rauhem Papier die letzten Gespräche zwischen der im Originaltext „hungrigen und durstigen Seele“ und dem Teufel niederschrieb. Er sieht über  seinen  groben  Schreibtisch auf  die Webergasse  der  Görlitzer Altstadt, sieht Händler, Hausfrauen, Kinder; nicht weit entfernt ragen die Türme der Görlitzer Peterskirche auf, deren Pfarrer Gregor Richter ihn vier Jahre zuvor aufgrund seiner Schriften als Ketzer gebrandmarkt hatte. Der Dreißigjährige Krieg hatte Einzug in die Lausitz gehalten, sein Dasein als reisender Händler wurde gefährlicher, das Alltagsleben und die Anfeindungen zehrten an ihm. In Kürze wird der Görlitzer Magistrat Jacob Böhme nahelegen, die Stadt „wegen vielfältig Klagen und der bösen ärgerlichen Lehr halber“ für eine Weile zu verlassen, auf das wieder etwas Ruhe in den festgefahrenen theosophischen Streit zwischen Gregor Richter und dem schreibenden Schuster einkehre.

Ein Brief soll es nun werden, an seinen Freund und Unterstützer Johann Siegmund von Schweinichen. Dieser lebt im Schlesischen, unweit von Bolków; auf seiner Burg Schweinhaus („Swiny“) war Jacob Böhme erst vor wenigen Wochen zu Gast. Ein Brief also an einen Freund, einen überzeugten Förderer, wohl auch an einen suchenden Geist, der überaus beeindruckt Böhmes Texte aufnimmt – ja, bei ihm sogar Abhandlungen bestellt. Am Ende wird das Schriftstück 19 eng beschriebene Seitenumfassen. ...

Hier finden Sie den vollständigen Text:



N. Bethke: Meine kleine Bambusflöte

erschienen in "De Liedvriend" 2019 nr.2, Zeitschrift des Vereins Vrienden van het Lied / www.vvhl.nl

von Dinant Krouwel

Der deutsche Komponist und Kirchenmusiker Neithard Bethke, geboren 1942, hat ein umfangreiches Werk geschaffen. Natürlich gibt es darunter viel Kirchenmusik, aber auch Symphonien, Kammermusik und weltliche Lieder. Er schrieb 1971 den Zyklus "Meine kleine Bambusflöte" für Sopran (h-h"), Flöte und Cembalo. Er besteht aus 23 Liedern in freien Übersetzungen alter chinesischer Poesie ins Deutsche. Die meisten Übersetzungen stammen von Hans Bethge und Manfred Hausmann. Die Kombination von Sopran, Flöte und Cembalo paßt gut zu den oft zarten Gedichten voller Vögel, Flöten, Tränen, Sonne und Gold. Es ist daher nicht ratsam, diese Lieder mit einem Klavier auszuführen. In Bezug auf Harmonie und Stimmführung erinnert Bethkes Musiksprache an Hindemith, ist aber transparenter. Manchmal erklingt in der Begleitung ein Choral und besonders im zweiten Teil ist viel Bach zu hören. Die Instrumentalteile veranschaulichen den Text üppig und sind keineswegs einfach. Das gilt auch für die Singstimme. Der Zyklus besteht nicht nur aus zarten chinesischen Szenen. Es gibt Tanzen, Lachen, lustvolle Liebe und natürliche Gewalt. Es ist ein langer und aufregender Zyklus, aber der Komponist hat kein Problem damit, dass eines oder mehrere Lieder separat aufgeführt werden.

De Duitse componist en kerkmusicus Neithard Bethke, geboren in 1942, heeft al veel werken op zijn naam staan. Daaronder bevindt zich uiteraard veel kerkmuziek, maar ook symfonieën, kamermuziek en wereldlijke liederen. De cyclus Meine kleine Bambusflöte schreef hij in 1971 voor sopraan (b-b"), fluit en clavecimbel. Deze bestaat uit 23 liederen op vrije vertalingen naar het Duits van oude, Chinese poëzie. De meeste vertalingen zijn van Hans Bethge en Manfred Hausmann.

De combinatie van sopraan, fluit en clavecimbel past goed bij de vaak tedere gedichten vol vogels, fluiten, tranen, zon en goud. Daarom is het niet aan te raden deze liederen met piano uit te voeren. Qua harmonie en stemvoering doet de muziektaal van Bethke aan Hindemith denken, maar hij is transparanter. Soms klinkt er een koraal in de begeleiding en vooral in het tweede deel is veel Bach te horen. De instrumentale partijen illustreren de tekst uitbundig en zijn bepaald niet eenvoudig. Dit geldt ook voor de zangstem.

De cyclus bestaat niet alleen uit tere Chinese taferelen. Er wordt gedanst, gelachen, wellustig bemind en er is natuurgeweld. Het is een lange en spannende cyclus, maar de componist heeft er geen moeite mee als een of meer liederen hieruit los uitgevoerd worden.



N. Bethke: Das Schiff legt ab

erschienen in "De Liedvriend" 2019 nr.2, Zeitschrift des Vereins Vrienden van het Lied / www.vvhl.nl

von Dinant Krouwel

Vom gleichen Komponisten Neithard Bethke stammt eine Elegie für Sopran (c'-h"), Klarinette und Orgel mit dem Titel "Das Schiff legt ab". Er komponierte dieses groß angelegte und farbenreiche Werk 2006 nach dem visionären und mystischen Gedicht "Überfahrt nach Feuerland" seiner Tochter Agnes Bethke, mit der er 1997 eine Konzertreise durch Südamerika unternahm. Sie wurde zu diesem Gedicht, das man als genial bezeichnen kann, während einer Schifffahrt durch die berühmte und berüchtigte Magellanstraße inspiriert. Neithard Bethke schrieb eine anregende, schaurige und hymnische Komposition, so fantasievoll wie eine Mahler-Symponie. Der Verlag gibt 40 Minuten als Dauer an. Orgel und Klarinette spielen große Teile rein instrumental ohne Vokal-Stimmenpart. 

Van dezelfde Neithard Bethke verscheen een elegie voor sopraan (c'-b"), klarinet en orgel met als titel Das Schiff legt ab. Hij componeerde dit groots opgezette werk in 2006 op het gedicht Überfahrt nach Feuerland van zijn dochter Agnes Bethke, met wie hij in 1997 een concertreis maakte door Zuid-Amerika. Tijdens een bootexcursie door de beroemde en beruchte Straat van Magellaan werd zij geïnspireerd tot dit gedicht. Bethke schreef een evocatieve, huiveringwekkende en hymnische compositie als een Mahler-symfonie. De uitgever geeft als tijdsduur veertig minuten aan. Orgel en klarinet hebben grote stukken samen zonder zangstem.



César Franck
Symphonie d-Moll, Bearbeitung für große Orgel (solo)
von Neithard Bethke
Edition Merseburger 1857, erschienen in organ 1/2018, © Schott Music, Mainz 2018

von Felix Friedrich


Vor wenigen Jahrzehnten noch galt die Bearbeitung respektive Transkription originaler Kompositionen für andere instrumentale oder vokale Besetzungen als verpönt. Inzwischen hat sich eine grundlegende Wandlung vollzogen. Alles ist grundsätzlich möglich, aber gewiss ist im Einzelfall nicht alles sinnvoll oder ästhetisch überzeugend. Es gibt jedoch auch eine ganze Palette an Stücken, die den Bearbeiter aus sich selbst geradezu dazu aufrufen und ermuntern, Notenpapier und Bleistift zu zücken. Dazu zählen beispielsweise – wie inzwischen mehrfach geschehen – die Sinfonien des österreichischen Komponisten (und Organisten!) Anton Bruckner. Jetzt gesellt sich dank der Initiative des langjährigen Ratzeburger Domorganisten Neithard Bethke mit einer weiteren Ausgabe auch der „Vater der französischen Orgelsymphonie“ und Orgelmeister von Sainte-Clotilde in Paris hinzu: César Franck (1822–90). Eine Bearbeitung seiner einzigen Orchestersinfonie in d-Moll, so Bethke im Vorwort zur vorliegenden Edition, ergebe sich „fast von alleine“.

Dass dem so ist, liegt natürlich an der Struktur dieses späten Meisterwerks von Franck und vielleicht auch daran, dass er speziell dieses Opus sehr orgelmäßig im orchestralen Stil des „Orgue symphonique“ seines genialen Pariser Orgelbauzeitgenossen Aristide Cavaillé-Coll (1811–99) empfunden hat, zumal dessen Orgeln als klangästhetische Inspirationsquelle einen zentralen Platz im Leben und Schaffen Francks einnahmen. Als er die Orchestersinfonie 1888 beendete, lagen die überwiegenden Teile seines Orgelschaffens ebenfalls vor. Lediglich die drei großen Choräle César Franck Symphonie d-Moll Bearbeitung für große Orgel (solo) von Neithard Bethke Edition Merseburger 1857 entstanden erst kurz danach gewissermaßen als „musikalisches Testament“.

Mit der Transkription auf die Orgel fügt Neithard Bethke dem französischen spätromantischen Repertoire für die Orgel sozusagen ein anspruchsvolles und gewichtiges weiteres Werk des Großmeisters hinzu. Insofern stellt seine Edition absolut einen Gewinn für die Organisten zunft dar. Bethkes Transkription ist über viele Jahre hinweg gereift – und dies spürt man beim Studium der Orgelpartitur. Er hält sich soweit als möglich, an die originale Notation und Artikulation, die Franck übrigens sehr minutiös in seine Orches terpartitur eintrug und bei der man sozusagen auf Schritt und Tritt im Einzelnen nachvollziehen kann, dass Franck beim Komponieren vielfach den spezifischen symphonischen Orgelklang im Ohr hatte. Tremoli der Streicher oder Tonrepetitionen in Sechzehntel- Werten wandelte Bethke sehr geschickt in Achtelgruppen um, so dass der gesamte Orgelsatz ohne Probleme bestens spielbar bleibt und keine unüberwindbaren technischen
Hürden aufweist.

Auch die dynamische Zeichensetzung Francks behielt Bethke bei und nahm daran anknüpfend die detailliert notierte Aufteilung der Klaviaturen für eine dreimanualige, französisch-symphonisch ausgelegte Disposition vor. Dabei vermerkte er – und das ist ein weiteres Plus der Ausgabe – fast durchweg in Klammern die jeweilige Orchestergruppe in der Originalfassung, seien es Streicher, Solobläser, Harfe oder das Blech, so dass jeder Organist seine Registrierung problemlos danach adaptieren bzw. je nach Dispositionsvoraussetzung erweitern kann, ohne vorher die Orchesterpartitur studieren und analysieren zu müssen. Trotzdem dürfte es eine einigermaßen zeitaufwendige Aktion bleiben, die rund vierzigminütige Sinfonie („I. Lento – Allegro non troppo“, „II. Allegretto“, „III. Allegro non troppo“) auf der Orgel einzurichten, selbst wenn man auf moderne Setzerkombinationen zurückgreifen kann. Andernfalls wäre mindestens ein (versierter!) Registrant unumgänglich. Die gängigen Klaviaturumfänge einer großen, romantisch- symphonischen Orgel (im Manual bis g3 im Diskant) werden in keinem Fall überschritten. Das Pedal, ab und zu nur in der 8-Fuß- Lage bzw. in einigen exponierten Passagen im Doppelpedal notiert, übernimmt durchweg die Funktion der Bassgruppe des Orchesters.

Das Notenbild der als Ringheftung realisierten Edition ist sehr übersichtlich, gut lesbar gestaltet und gewissenhaft erarbeitet. Franck’sche Tempoangaben erscheinen in einigen Fällen leicht modifiziert. So wurde aus dem „Tempo come avanti“ im dritten Satz oder aus dem „Tempo stretto come avanti“ im Takt 125 des zweiten Satzes ein „L’istesso tempo“.

Einige wenige überflüssige Angaben stellen absolut keinen Qualitätsverlust dar (so fragt sich der Benutzer, warum in Takt 473 des ersten Satzes überflüssigerweise in Klammern der Vermerk „d-Moll“ steht, obwohl die harmonische Situation eher nach g-Moll bzw. BDur tendiert; oder warum der Hinweis „linke Hand“ im Takt 242 des ersten Satzes eingefügt wurde, da die Noten ohnehin im zweiten System notiert sind?). Etwas störend wirken die entgegen der üblichen Editionspraxis sich vor allen Akkoladen permanent wiederholenden Bezeichnungen „Org.“ und „Ped.“

Ein kurzes Vorwort (in Deutsch und Englisch) ist der Ausgabe vorangestellt. Vielleicht wären einige zusätzliche (hier gänzlich fehlende) Angaben zur angewandten Editionstechnik und ein Hinweis auf die Gesamtkonzeption der Bearbeitung ebenfalls sinnvoll gewesen. Doch diese und andere Kleinigkeiten sollen nicht mit einer Beckmesserei über diese Ausgabe den Stab brechen. Ganz im Gegenteil: Neithard Bethkes op. 75 ist rundum sehr zu begrüßen. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass dieser Fassung der breite Erfolg, welcher Franck bei der Uraufführung seiner bedeutenden Sinfonie in Paris seinerzeit zunächst versagt blieb, auf der Orgel künftig gleichwohl beschieden sein wird.



Neue Editionsreihe im Merseburger Verlag

von Angelika Horstmann

Musikarchiv des Ratzeburger Doms

 

Nach wie vor sind Kirchen und ihre Archive Fundstätten musikalischer Raritäten. Hierzu gehört auch eine Sammlung von musikalischen Handschriften im Ratzeburger Dom aus der Zeit zwischen 1750 und 1800, die der Musikwissenschaftler Professor Neithard Bethke in ihrem Wert erkannte und dem Merseburger Verlag nun für eine neue Editionsreihe anbot. Der frühere Leiter der Lübecker Musikbibliothek, Dr. Georg Karstädt, hatte bereits eine grobe Bestandsaufnahme der Sammlung vorgenommen. Sie war unvollständig und zum Teil fehlerhaft, weil ihm nicht alle Quellen zugänglich waren. Neithard Bethke machte sich nach seiner Ernennung zum Domorganisten und Kapellmeister am Ratzeburger Dom an die langwierige Arbeit, diese Handschriften zu sichten, zu ordnen und systematisch zu katalogisieren. Die so wieder zu einer übersichtlichen Sammlung gewordene Bibliothek umfasst Manuskripte von Kirchenkantaten, deren Komponisten zu ihrer Zeit bekannt oder sogar berühmt waren. Dazu gehörten Johann Christoph Altnikol, Johann Adolph Hasse, Georg Philipp Telemann, Johann Trier, Gottfried Heinrich Stölzel, Christian Gotthilf Tag und Johann Christian Stössiger. Begeistert von diesem Fundus entschloss sich Bethke, die Kantaten dem Vergessen zu entreißen und sie nach und nach in der von ihm gegründeten Reihe der alljährlichen Ratzeburger Dommusiken aufzuführen.

Über die Entstehungsgeschichte der Sammlung lässt sich nur mutmaßen. Allerdings war es in der Zeit zwischen 1750 und 1850 nicht unüblich, dass Fürstenhäuser, Gemeinden großer Hauptkirchen, leistungsfähige Chöre und Kantoreien zu besonderen Anlässen bei den zeitgenössischen Komponisten eigens Werke bestellten. Bleistifteintragungen auf den Deckblättern der Kantaten, wie „aufgeführet am Pfingstsonntag 1801“ oder „Triinitas 1802“, verdeutlichen, dass die Kantaten zum überwiegenden Teil für den gottesdienstlichen Rahmen bestimmt waren. Die vielen Unika von Kantaten, zu denen bislang nirgendwo weitere Abschriften oder Vorlagen auffindbar sind, weisen darauf hin, dass sie bei ihrem Komponisten ganz direkt zu einem bestimmten Tag für die Kirchenmusik am Ratzeburger Dom bestellt wurden. Ein bereits in dieser Zeit übliches Finanzierungsmodell für Editionen war die Subskription. Die Subskribenten erhielten vom Komponisten ein Exemplar von jedem neuen Werk.

Der Ratzeburger Dom hatte in den Jahren zwischen 1750 und 1810 zwei aktive und fähige Kantoren, die auch als Musiklehrer an der Domschule angestellt waren. Der Chor der Domschule war gleichzeitig der Domchor. Auch ein Orchester wurde aus dem Kreis Schüler gestellt. Offensichtlich stand ein umfangreiches Instrumentarium zur Verfügung, wie sich aus der oft anspruchsvollen Besetzung der Kantaten für Flöten, Oboen, Fagotte, Hörner, Trompeten, Pauken, Orgel und Streicher schließen lässt. Damals wie heute wurden die gottesdienstlichen Aufführungen mit eigenen Kräften realisiert. Folglich hat es in den angegebenen ca. 50 Jahren eine niveauvolle und vielfältige Dommusik in Ratzeburg gegeben, die in ihrer ganz außerordentlichen Qualität ohne Beispiel in der Region gewesen ist.

Diese im besten Sinne Gebrauchsmusiken bieten eine lebendige und fruchtbare Bereicherung des bisherigen Repertoires gerade der Kirchenmusik aus der Zeit zwischen Barock und Romantik. Sie eignen sich insbesondere für Laienchöre, da sie leicht zu singen sind. Ihre Frische und musikalische Aussagekraft können von Hörerenden wie Ausführenden gleichermaßen unmittelbar verstanden werden. „Darum „Singet dem Herrn erneut ein Lied mit alten Tönen“, denn diese haben, obwohl lange im Dom vergraben, verstaubt und vergessen, nichts von ihrer zupackenden Unmittelbarkeit und Ausdruckskraft verloren.“ (Bethke) 



Crucifixus,op. 25

Beeindruckende Uraufführung im Berliner Dom

Verlag Merseburger

Mit der Fertigstellung seines „Crucifixus“ op 25 hat Neithard Bethke (Jg. 1942) der Musikwelt ein eindrucksvolles abendfüllendes Oratorium zum Karfreitag geschenkt. Am 28. März erklang die Uraufführung der überarbeiteten und stark erweiterten Fassung des Werkes unter der Leitung von Tobias Brommann im Berliner Dom. Es sangen Christina Roterberg -Sopran, Uta Runne -Alt, Volker Arndt -Tenor, Martin Schubach -Bass, die Berliner Domkantorei, der Mädchenchor der Singakademie zu Berlin (Einstudierung Friedrike Stahmer) und es spielte das Deutsche Filmorchester Babelsberg.


Das „Crucifixus“ ist der dritte Teil der Oratorien-Trilogie Bethkes. Es komplettiert den aus „Media vita in morte sumus“ op. 23 (Totengedenken) und „Christus natus est hodie“ op. 24 (Weihnachten) bestehenden Zyklus. Hilfreich und gerne angenommen von ca. 200 BesucherInnen war die Werkeinführung vor Beginn des Konzerts. Domkantor Tobias Brommann erläuterte den musikalischen Aufbau des Werkes, durch einige Projektionen medial unterstützt. Der anwesende Komponist ergänzte die Erklärungen und bedankte sich schon vorab für das Engagement des Domkantors und seines Chores bei der Vorbereitung der Aufführung. Die jahrzehntelange Verbundenheit von Lehrer und Schüler trug in der vorbereitenden halben Stunde wesentlich zu der im Konzert spürbaren Atmosphäre des Verstehens und Sich-Einlassens des Publikums auf die Komposition bei.

Das Oratorium verläuft in zwei musikalischen Strängen. Die Passionsgeschichte wird von Solisten und Chor in 9 Bildern erzählt. Am Ende eines jeden Bildes und im Übergang zum nächsten Abschnitt rückt der Choral „Herr Jesu, deine Angst und Pein“ in den Mittelpunkt rückt. Die Gemeinde (Konzertbesucher) ist eingeladen, diesen zu singen, während den Solisten unter wirkungsvoller Beteiligung des Chores eine vertonte Fassung des Vaterunsers zugeschrieben ist. Ein Rezitator (…) skandiert das gregorianische „Crucifixus natus est pro nobis“, gefolgt vom Kinderchor, der das pietistische Geistliche Volkslied „Hohes heil’ges Marterbild, sei in aller Not mein Schild“ vorträgt. Die Periodizität dieses Aufbaus nimmt den Hörer gefangen und lässt ihn überraschend zum Mitleidenden werden. Anders als in den bekannten Vertonungen der verschiedenen Passionstexte führt Bethke die Auseinandersetzung in diesem mit dem Sterben Jesu in seinem „Crucifixus“ über Tod und Grablegung Jesu hinaus. Ein den neun Teilen folgender Abschnitt mündet ein in die Auferstehungs- und Osterhistorie; ein Hoffnung gebender Schluss mit dem Blick auf die im christlichen Verständnis durch Jesu Sterben liegende Erlösung der Menschheit, die Auferstehung als zentralen Glaubensinhalt der Christenheit.

Bethkes Musik ist inspiriert vom Text und dessen Glaubensinhalt, zugleich Ausdruck seiner eigenen religiösen Überzeugung. Die Harmonik hat ihre Schärfen dort, wo es der Text verlangt. Die Hörergemeinde findet sich eingebettet in moderate zeitgenössische Klänge, die nicht überfordern. Bethkes Sprache nimmt die Menschen mit hinein in die Geschichte. Indem er sie einlädt zum Mitsingen, gibt er ihnen die Möglichkeit, an der Entwicklung des Werkes teilzunehmen, es von innen heraus zu erleben. Der Choral, der Vers für Vers gesungen wird in den Übergangsabschnitten zwischen den Passionsbildern, wird dabei zum Wiedererkennungsmerkmal, das zunehmend Sicherheit vermittelt im Umgang mit der Komposition und im Sinne des Glaubens Zuversicht gibt.

Der Anteil des Chores am musikalischen Gesamtgeschehen ist beträchtlich. Mit Ausnahme einer Sopran-Arie im achten Bild, die dem Sterben Jesu folgt, ist der Chor an allen Bildern beteiligt. Ihm kommt nicht nur wie üblich die Aufgabe zu, Volkes Stimme zu vertreten, vielmehr ist ihm vor allem die Rolle Jesu zugeschrieben; für Bethke eine fundamentale Aussage, da ihm die Darstellung durch einen Sänger allein die Bedeutung des menschgewordenen Gottessohnes nicht ausreichend wiedergibt. Die schon benannten harmonischen Schärfen sind realisierbar und der Tonumfang sowie die Melodieführung empfehlen das Werk für mittelgroße bis große Laienchöre. Gesteigerte Anforderungen müssen die Solisten erfüllen. Die thematisch-motivische Gestaltung ihrer Partien bedingt zum Teil schwierige harmonische Passagen. Die Stimmführung belegt jedoch eindrucksvoll, dass Neithard Bethke die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Stimme genau kennt.

Tobias Brommann erwies sich in Interpretation und Ausgestaltung des Werkes sowie der Leitung des großen Aufführungsapparates als souveräner Dirigent. Der stimmbildnerisch gut geschulte Chor folgte dem Dirigat in allen Nüancen und konnte setzte sich klanglich stets gegenüber dem Orchester durch. Dieses musizierte mit angenehmer Leichtigkeit und unter Vermeidung fetter Klänge transparent. Alle Beteiligten waren stets präsent, verlässlich in der Gestaltung ihrer jeweiligen Partien und musikalisch absolut überzeugend. Einzelne Leistungen zu beschreiben würde der wunderbaren Gesamtleistung des Ensembles nicht gerecht. Dennoch sei der Mädchenchor erwähnt, der stimmlich und gestalterisch hervorragend agierte.

Karfreitäglichen Charakter erhielt die Aufführung, als zum Zeitpunkt der musikalischen Hinwendung in Richtung Auferstehungshistorie der Strom ausfiel und für eine Viertelstunde ausschließlich das Notlicht im großen Kirchenraum brannte. Mit unerschütterlicher Ruhe warteten alle Ausführenden die Wiederherstellung der Stromversorgung ab. Es gelang Tobias Brommann diese unerwartete Dramaturgie mit der erforderlichen Spannung zu überbrücken und das Werk stimmungsvoll zum Ende zu führen. Auf Bitten Brommanns wurde nicht applaudiert. Vielmehr erhob sich das Publikum nach dem Verklingen des letzten Tons und erwies allen InterpretInnen und dem Komponisten mit minutenlanger Stille Wertschätzung und Anerkennung der großartigen Leistung aller Beteiligten.